Bloß nicht dichtmachen

Corona-Pandemie Computersucht, Angststörungen, Panikattacken: Kontaktbeschränkungen haben ernsthafte Folgen für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Bei den Rufen nach einem Lockdown werden die Kollateralschäden nicht ernst genommen
Ausgabe 47/2021
Wir dürfen vor allem die jungen Menschen nicht nochmal einsperren
Wir dürfen vor allem die jungen Menschen nicht nochmal einsperren

Foto: Imago/MiS

Dieser Text klingt wenig nüchtern, eher wirr, was an meiner Gefühlslage liegt, die zwischen Erschöpfung und Angespanntheit changiert, Sorge und Meinung wechseln in Livetickergeschwindigkeit. Müde bin ich, vielleicht leide ich am Fatigue-Syndrom, an einer Art Long Covid, ohne an Corona erkrankt gewesen zu sein. Dabei sollte ich mich besser bescheiden, oder? Denn als berufstätige Mutter bin ich bisher komfortabel durch die never ending Pandemie gekommen. Wir hatten im Lockdown genügend Hardware, wir hatten keine existenziellen Sorgen durch zum Beispiel Kurzarbeit, wir waren nie verzweifelt und ohne Hoffnung wie jetzt vielleicht die Schausteller von abgesagten Weihnachtsmärkten oder Hoteliers in Sachsen. Und schon gar nicht war ich so überarbeitet, traumatisiert, an allen psychischen Grenzen wie Pfleger und Ärztinnen.

Kein Angehöriger starb während des Lockdowns an Corona, niemand an einer anderen Krankheit, von dem wir uns dann nicht hätten verabschieden dürfen. Die 91-jährige Oma liegt allerdings im Krankenhaus und die Enkel dürfen sie nicht besuchen. Wir sind eine normal neurotische Familie und blieben zum Glück verschont von Zwangs-, Angst- und Panikstörungen. Bis jetzt. Wenn es jetzt um den nächsten drohenden Komplett-Lockdown geht, (im Liveticker jetzt die neue Virus-Variante, wieder ein doppelt Geimpfter im Freundeskreis erkrankt und auch sonst lauter schlechte Nachrichten), dann wäre allerdings zu erwähnen: Der große Sohn hat wahrscheinlich eine Computerspielsucht. Solche und ähnliche „Kollateralschäden“ hielt ich bis jetzt für akzeptabel. Die psychosozialen Folgen bei Kindern und Jugendlichen nun erneut zu bagatellisieren, jedoch nicht.

Lockdowns machen krank

Als die Schulen nach dem letzten Lockdown öffneten, wurde auf Leistung gedrillt, als wäre nichts gewesen. Der Jüngere paukt für den Übergang zur weiterführenden Schule, beim Älteren gilt jetzt wieder das Probejahr am Gymnasium. Der Notendurchschnitt der letzten Mathearbeit war 4,6, die Arbeit wurde nicht wiederholt. Überhaupt, der Ton ist rau, sitzt bei einem Schüler die Maske schief, kann das zu einem Tadel führen, also zu einer Diszplinarmaßnahme. Ich habe eine Bekannte, deren Tochter sich ritzt, sich also Verletzungen zufügt, die Eltern sind verzweifelt, was sollten sie der No-Future-Stimmung entgegensetzen? Ich habe Bekannte, deren studierende Kinder seit vier Semestern keine Uni von innen gesehen haben. Ist der Drogenkonsum bei jungen Erwachenen angestiegen? Bei Müttern nämlich definitiv der Weinkonsum und die geteilten Memes in den Sozialen Medien waren nur letzten Winter lustig. Und dass Kinder sich gerade auf Schulhöfen „spielerisch“ hinrichten, weil sie die Serie Squid Game geschaut haben, steht das in einem Zusammenhang? Neulich fragte der Sohn: „Wann hört Corona endlich auf? Nie?“ Ich schwieg.

Wenn es zu einem neuen Lockdown kommt, sind wir der täglichen Überdosis Zahlenakrobatik (Inzidenz, Hospitalisierungsrate) noch "schutzloser" ausgesetzt. Und raus dürfte man auch nicht. Ich habe immer noch keine Antwort darauf, warum Intensivbetten abgebaut wurden, Impfzentren schlossen, 70-Jährige jetzt auf Booster-Termine warten, endlich Impfwillige stundenlang in der Schlange stehen. Es wird keine Antwort geben. Ich denke kurz, wenn jetzt jemand zu Hause bleiben muss, dann sind es die vulnerablen Gruppen, wir dürfen junge Menschen nicht noch einmal einsperren, sie feindlich als „Pandemietreiber“ bezeichnen. Letzte Woche schaute ich nach Schweden, diskret, denn in Schweden lief es gerade nicht schlecht, obwohl das Land ohne Lockdown ausgekommen ist. Bislang galten die Schweden als kalt, weil sie ihre Alten eiskalt dem Virus ausgeliefert haben sollen. Wer sich traut, die schwedische Strategie der Eigenverantwortung nicht zu verurteilen, gilt als Darwinistin. Die Schweden schützen aber inzwischen die vulnerablen Gruppen gut, die Deutschen lange nicht. Die Schweden vertrauen ihrer Regierung wie die Portugiesen und Spanier.

Sollte ein neuer Lockdown unvermeidlich sein, und alles sieht danach aus, sind dann brutale Ausschreitungen zu befürchten, wie in den Niederlanden und in Belgien? Was sag ich meinen Söhnen? Dass die Polizei hart durchgreifen muss? Dass das die Ultima Ratio ist? Vielleicht sag ich ihnen das: die Krankenhäuser kollabieren. Und da die Kinder inzwischen selbst den Lockdown erwarten, weil das Schulleben kaum "normal" zu nennen ist und nichts mehr Spaß macht, ist es eigentlich auch egal.

Lesen Sie hier eine Erwiderung von Lutz Herden auf diesen Artikel

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Geschrieben von

Katharina Schmitz

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Literatur“

Katharina Schmitz studierte Neuere Geschichte, Osteuropäische Geschichte, Politikwissenschaften, Vergleichende Literaturwissenschaften und kurz auch Germanistik und Romanistik in Bonn. Sie volontierte beim Kölner Drittsendeanbieter center tv und arbeitete hier für diverse TV-Politikformate. Es folgte ein Abstecher in die politische Kommunikation und in eine Berliner Unternehmensberatung als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Ab 2010 arbeitete sie als freie Autorin für Zeit Online, Brigitte, Berliner Zeitung und den Freitag. Ihre Kolumne „Die Helikoptermutter“ erschien bis 2019 monatlich beim Freitag. Seit 2017 ist sie hier feste Kulturredakteurin mit Schwerpunkt Literatur und Gesellschaft.

Katharina Schmitz

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