E s ist das kürzeste Märchen der Brüder Grimm: unseren Autor und Literaturwissenschaftler Wolfram Ette beschäftigt „Das eigensinnige Kind“ (Text siehe oben), seit er es zum ersten Mal gelesen hat. Sein gleichnamiger Essay handelt davon, er wendet sich gegen die Unterdrückung lebendiger Impulse im Menschen.
der Freitag: Herr Ette, was hat Sie an diesem Märchen fasziniert?
Wolfram Ette: „Das eigensinnige Kind“ ist ja wie ein Faustschlag, von einer schwer fassbaren Brutalität. Selbst von Kafka gibt es nur wenige Texte, die diese Wucht haben. Als ich es zum ersten Mal gelesen habe, war ich verstört. Die Kürze, die Bündigkeit, dieser brutale Protokollton. Mit absoluter Selbstverständlichkeit wird festgehalten, dass der Tod eines „eigensinnigen Kindes“ ein höchst lohnenswertes Erziehungsziel sei.
Es hat Sie so sehr verstört, dass Sie ein ganzes Buch schreiben mussten?
Ich schrieb dieses Buch, um den Schock abzufangen und die Angst zu lindern, die dieses Märchen bis heute bei mir auslöst. Ich nenne es „Angstkreis“, das meint, dass das bis heute nicht aufgehört hat. Wenn ich gegen die Affirmation der Unterdrückung protestiere, die im letzten Satz ausgesprochen wird, tue ich dies nicht aus einer souveränen Position. Es ist Gegenwehr. Diese Gegenwehr findet in alle Richtungen statt. Deshalb ist Das eigensinnige Kind kein wissenschaftliches Buch, es mischt Formen der Auseinandersetzung.
Was bedeutet das für Sie: ein eigensinniges Kind?
Ein eigensinniges Kind erregt, wenn wir ehrlich sind, unsere Wut. Das Kind schläft nicht durch, schreit. Es verweigert sein Essen, wirft es auf den Boden. Es will alle Aufmerksamkeit, redet zu laut. Gegenüber seinen Geschwistern verhält es sich hinterhältig. Wenn es zur Schule muss, bleibt es lange liegen. Es klaut Schokolade, später Geld. Es macht keine Hausaufgaben oder schiebt sie so lange vor sich her, bis es zu spät ist. Es spielt Ballerspiele, schlägt Türen und brüllt seine Eltern an. Es schließt sich in seinem Zimmer ein, nimmt Drogen und wählt die Partei, die die Eltern verachten. Es wird Nazi, Autonomer, Amokläufer, Spießer. All das sind Figuren des Eigensinns, die schmerzen.
Welche „Spielarten des Überlebens“ nach der Austreibung des Eigensinns gibt es noch für Sie?
Meine „hermeneutische Grundoperation“ lautet: Das eigensinnige Kind ist nicht tot. Die Ruhe unter der Erde im Märchen ist Metapher für ein Leben, das im Zeichen des niedergeschlagenen Eigensinns steht. Mein Essay entwirft Lebensläufe ungelebten Lebens. Das kann ein Leben von funktionärshafter Starre sein, das eines Berufsoppositionellen, der am Ende doch zur Macht überläuft; es kann das Leben eines Amokläufers sein oder eines, das sich in Richtung des „soldatischen Typs“ bewegt, den Klaus Theweleit in den Männerphantasien geschildert hat.
Sie reisen dabei quer durch den Kanon der Weltliteratur ...
Es ist ein ziemlich heterogenes Material: Ovids Narziss-Erzählung als Geschichte eines ungeliebten Kindes; der Mythos vom Erfolgsmenschen Herakles, hinter dem die rachsüchtige Mutter steht und der am Ende seine Familie abschlachtet; der Struwwelpeter als Subversion der Schwarzen Pädagogik des 19. Jahrhunderts; Büchners Woyzeck; Hamlet, den ich mir als Kind vorstelle. Oder: Was bedeutet die kollektive Unterdrückung von Leben und Eigensinn zum Beispiel vor und nach der Wende? Gibt es einen Zusammenhang zum Aufflackern faschistischer Tendenzen?
Zur Person
Wolfram Ette, geboren 1966, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie in Berlin und Paris. Mitarbeit im DFG-Forschungsprojekt „Philologie des Abenteuers“. Er lebt in Chemnitz. Das eigensinnige Kind (120 S., 16 €) erschien 2019 im Büchner-Verlag
Gibt es einen „Backlash“ in der modernen Erziehung?
Ich fürchte ja, in unterschiedlichen Erscheinungsformen, weil es „die moderne Erziehung“ empirisch gar nicht gibt. In der Kindererziehung ist immer geschlagen worden: mal mehr, mal weniger; mal im Affekt, mal systematisch. Global gesehen ist es wahrscheinlich noch immer die am weitesten verbreitete Erziehungsmethode. Durch die Fluchtmigration wird diese vielleicht in verstärktem Maße bei uns sichtbar. Die Familienverhältnisse in den Ländern, aus denen die Menschen fliehen müssen, sind häufig sehr autoritär. Anderswo ist an die Stelle der Unterdrückung eine emotionale Indifferenz getreten, die sich allenfalls in Praktiken der Überwachung äußert. Im Märchen ist dieser Aspekt ebenfalls enthalten – und zwar in Form der emotionalen Kälte. Das ist die hässliche Fratze der antiautoritären Erziehung, die ich öfter beobachte. Aus Konfliktschwäche haben die Eltern aufgegeben und ziehen sich emotional zurück. Auch das ist ein Rückschritt.
Wird aus dem geschlagenen Kind ein Täter? Ein Breivik?
Sie kennen ja wahrscheinlich dieses berühmte Bild, auf dem er vor Gericht steht und den Hitlergruß macht. Es erinnerte mich an die Hand des eigensinniges Kindes, die wieder und wieder aus dem Grab hervorkommt. Könnte es sein, habe ich mich gefragt, dass der Widerstand, wenn er einmal gebrochen ist, selbst Züge der unterdrückenden Gewalt annehmen muss, um zu überleben? So werden aus Opfern Täter – Borderliner vielleicht, Faschisten oder eben ein Amokläufer. Die Psychoanalyse nennt diesen Mechanismus ja Identifikation mit dem Aggressor. Ich bin mir nicht sicher, ob „Identifikation“ der richtige Begriff ist.
Was macht uns Leser*innen zu Komplizen?
Ich glaube, man muss sich seine Wut, den Hass, die Hilflosigkeit eingestehen. Heiner Müller hat mal gesagt: „Ich glaube nur an Konflikte.“ Jedes Rausgehen aus der Dialektik von Unterdrückung und Aufbegehren ist Konfliktverweigerung, ist destruktiv. Ich habe das Buch auch deshalb als Essay angelegt, in dem Bilder, literarische und wissenschaftliche Texte gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Ich finde die wissenschaftliche Distanz unbrauchbar für das Ziel, die Leser*innen zu Komplizen zu machen.
Wir sprechen ja primär von Jungs: Was wird denn aus den geschlagenen Mädchen?
Es gibt ja zwei Studien über Mädchen, deren Eigensinn zerbrochen wurde: einmal über das „Meretlein“ aus Kellers Grünem Heinrich; und über Carrie, Stephen Kings frühen Roman über ein 17-jähriges Mädchen, das die Kleinstadt, in der es lebt, in Schutt und Asche legt. Aber ich gebe zu, dass es hier eine Asymmetrie gibt. Vielleicht sind weibliche Borderliner oder narzisstisch gepanzerte Charaktere Spätfolgetypen des niedergeschlagenen Eigensinns, die sich dann zum Beispiel in Beziehungen katastrophal destruktiv verhalten können. Aber davon handelt mein Buch nicht so sehr. Es ist in einem Sinne, den ich selber eigentlich als produktiv empfinde, nicht fertig.
Was wäre geglückter Eigensinn?
Dass ich darüber nicht so viel schreibe, hat auch den Grund, dass es von Kluge und Negt dieses dicke Buch über Geschichte und Eigensinn von 1981 gibt. Sie finden da viel über die positiven Gestalten der „Freiheit, welche noch innerhalb der Knechtschaft stehen bleibt“, wie Hegel es formuliert; und zwar sowohl im Arbeitsleben als auch in der Kindererziehung. Ich habe irgendwann ein Unbehagen empfunden. Negt und Kluge beschönigen den Eigensinn und vernachlässigen seine pathologischen Erscheinungsformen.
Die „Pathografie“ des Eigensinns also ...
Ja. Das wäre meine Korrektur. Insgesamt würde ich freilich sagen, dass man immer dann von geglücktem Eigensinn sprechen kann, wenn er sich mit der unterdrückenden Instanz in einer rhythmischen Beziehung befindet. Grün und blau werde er ihn prügeln, wird Anders, einem der Helden in Astrid Lindgrens Kalle Blomquist, von seinem Vater angedroht, wenn er während des Markttages auch nur einen Fuß aus der väterlichen Werkstatt setze. Der Junge gehorcht – aber weniger aus Angst vor den väterlichen Schlägen, an die er sich gewöhnt hat, sondern im Wissen darum, dass ihn der Alte, wenn er ihm in diesem Punkt nachgibt, ansonsten in Ruhe lassen wird. Solche quasi vertraglichen Beziehungen sind in den letzten Jahrzehnten massiv entregelt worden; die Frage ist, ob sich der Eigensinn deswegen andere, unerfreulichere Schlupflöcher suchen muss.
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