Ob es viele EU-Bürger sind, die sich regelmässig auf den Internetpräsenzen der Europäischen Union verirren, um sich hier ganz konkret über die Arbeit eben dieser zu informieren? Wohl kaum. Vieles erfährt der EU-Bürger meist erst, wenn sein Zug schon abgefahren ist. Plötzlich ist die Kommission vielleicht mit Vollgas in die entgegengesetzte Richtung gefahren oder einfach rein in den Straßengraben. Anders ist jedenfalls so manch dreiste Fahrt für freie Unternehmer nicht zu erklären, zum Beispiel beim EU-Projekt „Modernisierung des europäischen Verkehrssystems“. Da hieß es noch in einer Pressemitteilung vom Mai 2018: „Ziel ist es, die Bürger vor Verkehrsunfällen, schlechter Luftqualität und Klimawandel zu schützen, ihnen neue Mobilitätslösungen, die ihren sich verändernden Bedürfnissen entsprechen, an die Seite zu stellen und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zu verteidigen. Die heutigen Initiativen sollen diese positive Agenda vervollständigen und für einen reibungslosen Übergang zu einem Mobilitätssystem sorgen, das sicher, umweltfreundlich sowie vernetzt und automatisiert ist.“
Nichts verpasst der EU-Bürger, der diese Passage nur kursorisch gelesen hat, denn was die Europäische Kommission an diesem Mittwoch verabschieden soll, trägt offensichtlich zu nichts anderem bei als zur „Verteidigung der europäischen Industrie“. Was auch immer „europäische Industrie“ bedeutet oder – in diesem Zusammenhang – der Begriff „Verteidigung“. Welche Feinde stehen sich hier (innerhalb der EU) gegenüber? Durch klare Frontscheiben ist hier wohl ein Konglomerat einiger weniger Marktführer zu sehen – das Fernbusunternehmen Flixbus zum Beispiel, mit Sitz in München, das dank einiger Übernahmen die Konkurrenz so ziemlich aus dem Feld geschlagen hat (und der Deutschen Bahn nun auch Konkurrenz macht). Wie war das nochmal mit dem Verkehr auf die Schiene? Vergessen wir das.
Flixbus wirbt mit günstigen Fernbusreisen schon ab 5 Euro. Was Reisende nicht realisieren: Flixbus ist vor allem ein digitaler Reisemakler, nur die Plattform für die Ticketbuchung. Mittelständische Unternehmen führen die Reisen durch, die über Flixbus gebucht werden. Mit den neuen Entsenderichtlinien könnten bald Busse, die zum Beispiel von München nach Budapest fahren, von europäischen Niedriglohnkräften gelenkt werden. Vielleicht fährt dann ein in Bulgarien angestellter Busfahrer bis zu 16 Stunden am Tag für 1,57 Euro die Stunde und verteidigt heroisch europäische Arbeitsplätze, also osteuropäische Arbeitsplätze. Lohndumping ist das Wort dafür, jetzt auch EU-weit erhältlich. Für seinen Arbeitsplatz jedenfalls braucht es nur eine Briefkastenfirma.
Bis zu 16 Stunden am Tag? Ein Sprecher von Flixbus betont, der Fernbuslinienverkehr als0 Flixbus sei von diesen Regelungen nicht betroffen, das Unternehmen führe strenge Kontrollen durch, damit Ruhe-und Lenkzeiten eingehalten werden. Die neuen Regelungen betreffen aber die Bustouristik und den Gelegenheitsverkehr. Durften Bus- oder LKW-Fahrer in Deutschland „nur“ bis zu 9 Stunden am Tag fahren und zweimal in der Woche gar 10 Stunden, sind zukünftig Arbeitszeiten bis zu 16 Stunden am Tag möglich – inklusive weniger Ruhepausen. Einmal Amsterdam und zurück? Kein Problem, der Fahrer liegt abends wieder in seinem Bett, sofern er die Miete seines Abfahrtsortes bezahlen kann. Wahrscheinlicher ist aber, dass er nicht direkt am Busbahnhof wohnt und nach Feierabend also weiter unterwegs ist, um nach Hause zu kommen. Er liegt dann also später im Bett – gesetz den Fall, er ist nicht am Lenkrad eingeschlafen oder schon auf dem Weg nach Loret de Mar. Die EU-Reformpläne sehen nämlich auch vor, dass Fahrer demnächst 12 Tage am Stück ohne Ruhetag unterwegs sein können. Einmal Spanien und zurück, warum nicht.
Nach Branchenangaben fehlen in den nächsten Jahren 22.000 deutsche Arbeitnehmer, die sich diesen Job antun wollen. Und Reisende? Die Unfallzahlen im Omnibusverkehr waren zuletzt trotz gestiegener Beförderungsleistung zwar rückläufig, ob Verbraucher das Wettrennen auf der Straße unterstützen wollen, ist die andere Frage.
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