Bye-bye, IQ

Schulreform Starautor Paul Tough findet, dass Charakter wichtiger ist als Intelligenz
Ausgabe 41/2013

Es gibt eine Sorte Sachbuch, die Lebensgeschichten als Fallbeispiele breitwalzt und verkitscht, Geschichten wie die von der jungen Kewauna Lerma in dem US-Bestseller Die Chancen unserer Kinder – Warum Charakter wichtiger ist als Intelligenz. Kewauna kommt aus prekären Verhältnissen, sie schafft es dank viel Förderung an die Uni, muss aber an die Hand genommen werden: „Am ersten Tag verhielt sich Kewauna so, wie Michele Stefl es ihr geraten hatte: Sie stellte sich vor Kursbeginn dem Dozenten vor und nahm in der ersten Reihe Platz, wo bis dahin nur weiße Mädchen saßen. Alle anderen Afroamerikanerinnen setzten sich lieber nach hinten, was Kewauna ziemlich wurmte (...). Sie hatte noch drei Jahre vor sich, also einen langen Zeitraum, in dem eine Menge daneben gehen (...) konnte. Doch Kewauna wusste, wo sie hinwollte und warum.“

Tja, das literarische Sachbuch, man muss es schon sehr mögen, um solche Stellen zu goutieren. Befremdlich findet die Rezensentin auch das grassierende Namedropping von engagierten Lehrern und verdienten Forschern. Auch Steve Jobs wird in diesem Buch erwähnt, als Beispiel dafür, dass Studienabbruch und Jobverlust für eine Mission nicht hinderlich sein müssen. Ist das typisch amerikanisch? Fast schon furchterregend auch, wenn Bildungsprogramme „Teach for America“ heißen. Damn! Dieser Spirit! In den USA, so scheint es, geht es selten eine Nummer kleiner.

Was also ist Sache in diesem Buch von Paul Tough? Die Hauptthese lautet, dass kognitive Intelligenz bei weitem nicht so wichtig ist wie die so genannten soft skills. Keine neue Erkenntnis, sondern unter anderem aus älteren Sachbüchern bekannt. Auch Vorwort-Schreiber Heinz Buschkowsky kann sich nicht helfen. Selbstbeherrschung, Neugier, Gewissenhaftigkeit, Mut, Selbstvertrauen, Disziplin, Entschlossenheit hat man doch hierzulande einmal preußische Tugenden genannt? Tough jedenfalls nennt die Eigenschaften „Charakter“. Und wenn für die Charakterbildung im Rahmen von „KIPP“ beispielsweise an einer Schule T-Shirts mit Motivationsslogans getragen werden, dann könnte das dem Bildungsrevoluzzer Richard David Precht stark aufstoßen, selbst wenn dieser in seinem Missionarseifer immer, pardon, tougher wird. Aber plakative Dressur lehnt Precht dann doch ab.

Immerhin erfährt man, dass Kinder in Tests besser abschneiden, wenn sie ein dynamisches Selbstbild haben. Tough verweist hier auf Studien aus der amerikanischen Bildungsforschung. Er besucht die Armenviertel in Großstädten, eine Schachschule, die beweist, dass professionelles Scheitern eine Chance ist, wenn man die Partie noch einmal knallhart durchspielt, oder eine Privatschule, die Gott sei Dank beweist, dass wohlbehütete Kinder zwar Erfolg qua Geburt in die Wiege gelegt bekommen, aber deshalb nicht wirklich Gesellschaftsrelevantes zu leisten in der Lage sind, weil ihre soft skills eben auch verkümmert sind, we call it Wohlstandsverwahrlosung.

Keine Weltformel

Forschung ist wichtig, nur der Kontext muss stimmen. Unpassend wirkt, wenn für die Bindungstheorie eine Rattenstudie herangezogen wird. Nachgewiesen wird, dass mütterliche Fürsorge das Stresshormon bei den Rattenkindern senkt und sich diese dann viel gelassener im Käfig verhalten. Denn: In prekären Verhältnissen und/oder bindungsarmen Familien aufzuwachsen, bedeuten Dauerstress und fast todsicher eine ungünstige Zukunftsprognose. Jesper Juul würde es Beziehung statt Erziehung nennen.

Julian Nida-Rümelin sprach neulich in einem Interview von einem „Akademisierungswahn“ hierzulande angesichts einer steigenden Anzahl von Studenten, das wäre auch die Kritik der Rezensentin an diesem Buch. Es geht bei Tough immer darum, dass jede und jeder zum College geht. Buschkowsky sagt offen, dass er in seinem Kiez vor ähnliche und gänzlich andere Probleme gestellt ist. Für gute Zukunftschancen gibt es eben keine Weltformel.

Die Chancen unserer Kinder – Warum Charakter wichtiger ist als Intelligenz Paul Tough Klett-Cotta 2013, 321 S., 21,95 € Katharina Schmitz ist Mutter von zwei Söhnen, die noch nicht schulpflichtig sind

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Geschrieben von

Katharina Schmitz

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Literatur“

Katharina Schmitz studierte Neuere Geschichte, Osteuropäische Geschichte, Politikwissenschaften, Vergleichende Literaturwissenschaften und kurz auch Germanistik und Romanistik in Bonn. Sie volontierte beim Kölner Drittsendeanbieter center tv und arbeitete hier für diverse TV-Politikformate. Es folgte ein Abstecher in die politische Kommunikation und in eine Berliner Unternehmensberatung als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Ab 2010 arbeitete sie als freie Autorin für Zeit Online, Brigitte, Berliner Zeitung und den Freitag. Ihre Kolumne „Die Helikoptermutter“ erschien bis 2019 monatlich beim Freitag. Seit 2017 ist sie hier feste Kulturredakteurin mit Schwerpunkt Literatur und Gesellschaft.

Katharina Schmitz

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