In Debatten über Diskriminierung und Identität wird oft mit dem sperrigen Begriff „Intersektionalität“ operiert. Im Englischen bedeutet intersection „Schnittpunkt“ oder „Schnittmenge“. Im akademischen oder politischen Kontext oder konkret auf die Erfahrungen eines Einzelnen bezogen, ist damit gemeint, dass eine Person verschiedenen Diskriminierungen ausgesetzt sein kann, dass sich Kategorien wie race, gender, class kreuzen können, verstärken und sich dann praktisch wie ein roter Faden durch das Leben ziehen. Selten wirkt eine Kategorie leidmildernd, wobei ein solches Auf- und Gegenrechnen wiederum ein neues Minenfeld darstellt, denn Leid kennt keine Konkurrenz. Und inwiefern man sich aus vermeintlich privilegierter Position oder einer benachteiligten Gruppe nicht zugehörend hineinversetzen darf in eine andere Person, ist wohl derzeit die am härtesten geführte Auseinandersetzung.
All diese Mikroaggressionen
In Real Life, dem großartigen Debüt des US-amerikanischen Schriftstellers Brandon Taylor, das für den Booker Prize 2020 nominiert war, werden solche Fragen verhandelt, hierzulande hat sich dem Komplex zuletzt Mithu Sanyal mit ihrem Campusroman Identitti mitreißend witzig und klug gewidmet, sie war damit leider nicht in die engere Auswahl für den Leipziger Buchpreis gekommen. Identitätspolitisch betrachtet, es klingt vielleicht absurd, repräsentiert man selbst die eher unwahrscheinliche Leserin, weiß und hetero, nicht wie der Protagonist Wallace schwarz und schwul. Dies deshalb nur nebenbei: Wie es dem Autor gelingt, in einer expliziten Sexszene zwischen zwei Männern, dass race, gender und class, vor allem die sexuelle Orientierung zur Nebensächlichkeit verschwimmen, ist beeindruckend, die Szene geht unter die Haut.
Dana brüllt: „Ich muss mich beweisen, weil du und Männer wie du mich ausgrenzen. Scheiß drauf, Frauen sind die neuen Nigger und die neuen Schwuchteln!“ Tja, nicht wirklich eine Überraschung, Frauen können sich deftig danebenbenehmen und der Autor lässt auch nur subtil durchscheinen, wie es zu diesem Furor Danas kommen konnte. Vielleicht wegen des Erfolgsdrucks, der auf allen lastet. Die „Dämonin“, die Doktormutter Simone, kennt wenig Erbarmen. Warum sie Dana in Schutz nimmt und Wallace nicht, bleibt ebenfalls ein blinder Fleck. Wie Taylor seinen Figuren das Stereotyphafte wegnimmt, den Konsens durch irritierende Zuschreibungen stört, intersektionale Nuancen gegen Klischees komponiert, indem Opfer- und Täterrollen nicht eindeutig angelegt sind, die Figuren widersprüchlich agieren, Mikroaggressionen raffiniert verteilt sind und wie er Frauen als Aggressor auftreten lässt (oder als Diskriminierung weglächelnde gute Freundin), das ist psychologisch subtil gemacht und mutig. Und es ist manchmal spielerisch gelöst, mit ironischer Distanz zu der eigenen Identität, wenn Wallace über den „schwulen Durchschnittsmann“ sagt: „Er ist oberflächlich und irgendwie dumm.“ Sich ein anderes Mal Freund Cole gegen Vereinnahmung wehrt und sagt: „Wir reden über Beziehungen, Monogamie und Queersein. Was echt lächerlich ist. Wir sind schwul, nicht queer.“
Die ohnehin fragilen Verhältnisse brechen auf, als Wallace entdeckt, dass sein Würmerstamm verunreinigt ist und damit monatelange Forschungsarbeit zunichte. Er promoviert in Biochemie, in einer namenlosen Stadt im Mittleren Westen der USA. Was seine Anwesenheit, pardon, noch „exotischer“ macht: Es ist seit über drei Jahrzehnten der erste Jahrgang mit einem schwarzen Doktoranden. Und Wallace fragt sich manchmal bitter, ob es mit der geringen Bewerberzahl zusammenhing, dass er über ein Förderprogramm hier landen konnte und damit seiner Herkunft entfliehen.
Wallace hat aber noch mehr Probleme. Eine Essstörung. Er wurde als Kind missbraucht. Wie eine persönliche Abspaltung wird in einem separaten Kapitel von diesem Missbrauch erzählt. Weil der Vater die sexuelle Orientierung des Kindes erkannte, ist seine Verachtung größer, gibt es kein Mitleid. Das alles erfährt der Leser nach und nach, denn darüber reden kann Wallace erst, nachdem er sich nicht mehr mithilfe kräftezehrender Anpassungsleistung zu verstecken in der Lage ist, außerdem ist sein Vater verstorben, was seine Freunde jetzt durch Zufall erfahren. Ihr Mitleid bringt Wallace in die nächste schwierige Lage, er fühlt keine Trauer. Den Missbrauch vertraut er Miller an, seinem Doktorandenkollegen, mit dem er an diesem unheilvollen Wochenende im Bett landet – wie gesagt, eine tolle Sexszene ist das. Miller scheint gegenüber Wallace privilegiert, weil weiß, aber sie ähneln sich, „beide sind die Ersten ihrer Familien, die aufs College gingen; nach dem Umzug in den Mittleren Westen hatten sich beide von der neuen Großstadt einschüchtern lassen; sie gehörten derselben Clique an, waren aber immer Außenseiter geblieben, die dem Leben nichts Leichtes abgewinnen konnten“. Miller, eigentlich hetero, belastet ebenso ein dunkles Geheimnis, aber es wird nicht mit „toxischer Männlichkeit“ wegdefiniert, Gewalt und Zärtlichkeit liegen in Real Life öfter dysfunktional nah beieinander.
Familiär, kafkaesk, feindlich
Atmosphärisch dicht hat Taylor sein Debüt angelegt, zeitlich auf nur ein Wochenende, ein Setting der kurzen Wege. Die Dialoge plätschern nur vordergründig so dahin, was manchmal an die Dialogkunst Karl Ove Knausgårds erinnert. Dazu epische Bilder, Vögel als Motiv für das Düstere, weiße Touristen, die zu viel Bier am Pier trinken. Brackwasser, das nach Kindheit riecht. Das biochemische Institut, überschaubar und familiär, kafkaesk und feindlich. „Es war, als hätte das Promotionsstudium ihre alten Persönlichkeiten ausgelöscht. Zumindest für Wallace war das Sinn und Zweck der Sache gewesen.“
Info
Real Life Brandon Taylor Eva Bonné (Übers.), Piper 2021, 352 S., 22 €
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