„Der Rest ist für Sie“

Pro Beim Trinkgeld-Test entpuppt sich so mancher Citoyen unfreiwillig als kleiner Bourgeois. Die freiwillige Abgabe muss bleiben
Ausgabe 51/2020
Richtig Trinkgeld zu geben, ist eigentlich ein Talent. Wer hier nur eine „Serviceleistung“ zu bewerten und belohnen glaubt, hat das Prinzip nicht verstanden
Richtig Trinkgeld zu geben, ist eigentlich ein Talent. Wer hier nur eine „Serviceleistung“ zu bewerten und belohnen glaubt, hat das Prinzip nicht verstanden

Foto: PEMAX/Imago Images

Das Trinkgeld muss bleiben, schon weil sich beim Trinkgeldtest der Citoyen öfter unfreiwillig als kleiner Bourgeois enttarnt. Da hat bis eben einer noch weltläufig getan, höflich bestellt und ordentlich konsumiert, das blöde Wer-zahlt-Problem formvollendet gelöst, in einem Abwasch jeden Geizverdacht zerstreut. Und dann das: Beim Trinkgeld kommt ein Geiz zum Vorschein, dass man aus den Latschen kippt. Wo sind seine Manieren geblieben? Was sind das für Machtgesten?

Ich habe früher oft gekellnert. Hier eine kleine Typologie, gespeist aus Erfahrung: Da haben wir den passiv-aggressiven Spießer, der schweigend keinen „Tip“ gibt, der einen schon vorher auf die Frage, ob es geschmeckt hat, mit einem pseudoneutralen „Danke“ rumstehen ließ. Sein Abend ist vermutlich seit Stunden versaut, aber er muss keine Szene machen, er kann warten, sein Triumph ist das Verwehren des Trinkgeldes, das ist seine Rache, sein Selbsthass, aber ausbaden muss es die Bedienung. Dann gibt es die Sorte Gast, die demonstrativ weniger als die üblichen zehn Prozent auf den Teller legt. War die Kellnerin zu wenig Kellnerin? Mehr so Grafikdesign-Studentin, kurz: zu wenig servil? Das muss sich dann leider aufs Trinkgeld auswirken. Und dann ist da noch Herr Aggro. Auch er sinnt auf Rache, ist sich aber nicht zu blöd, seine Begleitung zu kompromittieren und sie ebenfalls umständlich nach Cents im Portemonnaie kramen zu lassen.

Richtig Trinkgeld zu geben, ist eigentlich ein Talent. Wer hier nur eine „Serviceleistung“ zu bewerten und belohnen glaubt, hat das Prinzip nicht verstanden und kann sich auf seine Weltläufigkeit nichts einbilden. Das Trinkgeld ist mehr, es ist eine freiwillige Gabe, die gerade das allmächtige Prinzip unserer Wirtschaft – den Tausch – durchbricht. Trinkgeld ist aber auch so ein bisschen Spielgeld, das am besten sofort wieder unter die Leute kann. Denn nur wer Spielgeld hat, kann generös sein.

Besser bessere Löhne und Schluss mit der Willkür? Das klingt nach einer müden Ausrede, klingt nach: „Wer weiß, ob meine Spende für Ärzte ohne Grenzen auch wirklich ankommt.“ Auch schlimm der leicht paternalistische Duktus, vergleichbar dem der Leute, die Obdachlosen prinzipiell kein Geld geben, weil „der sich davon eh nur Schnaps besorgt“. Die Rede ist von Leuten, die sadistisch sind, ohne es zu merken, zum Beispiel vom Discounter noch einen Saft mitbringen, frei nach der selbstgewissen Einstellung: Naturalien spende ich, aber Geld? No way! Gleiches Prinzip gilt für die bettelnde Drogensüchtige oder Roma (ich finanziere doch nicht den Obermacker mit Mercedes und geklauten Radkappen!).

Last but not least bin ich für das Trinkgeld, wie ich gegen die Bonpflicht beim Bäcker war. Dem Bürger wird mikroskopisch mit Misstrauen begegnet, denn er ist ein notorischer Steuerbetrüger, deshalb hat er sich dem (für den Staat optimal zunehmend) bargeldlosen System zu unterwerfen, als wäre es ein weiteres Kapitel in Michel Foucaults Überwachen und Strafen. Volkswirtschaftlich – zweifelsohne dünnes Eis ist das jetzt hier – ist das so sinnvoll, wie die Schattenwirtschaft komplett zu eliminieren. Denn auch diese Erträge tragen dazu bei, den, äh, Konsum anzukurbeln. Wenn sich also meine nicht so toll bezahlte Friseurin (wobei ich aus Prinzip nie einen Billigfriseur aufsuche, weil das Dumpinglöhne unterstützt) mit ihrem eventuell nicht vollumfänglich versteuerten Trinkgeld etwas leistet: warum nicht?

Als Kellnerin war es mir eine Selbstverständlichkeit, das Trinkgeld mit der Küche solidarisch zu teilen. Jetzt, vor Weihnachten, habe ich ein Münzendepot angeschafft, damit ich nicht mit leeren Taschen dastehe, wenn ein Paketzusteller klingelt. Zuletzt wollte ich dem Fahrradmechaniker einige Münzen geben und kramte und kramte, weil er seine Arbeit so gut machte und ich großzügig sein wollte, mein Fahrrad ist jetzt wieder tipptopp und wurde mit Liebe repariert. Er meinte: Hör auf zu kramen, sonst habe ich noch ein schlechtes Gewissen.

Info

Die Widerrede von Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt auf diesen Artikel finden Sie hier.

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Geschrieben von

Katharina Schmitz

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Literatur“

Katharina Schmitz studierte Neuere Geschichte, Osteuropäische Geschichte, Politikwissenschaften, Vergleichende Literaturwissenschaften und kurz auch Germanistik und Romanistik in Bonn. Sie volontierte beim Kölner Drittsendeanbieter center tv und arbeitete hier für diverse TV-Politikformate. Es folgte ein Abstecher in die politische Kommunikation und in eine Berliner Unternehmensberatung als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Ab 2010 arbeitete sie als freie Autorin für Zeit Online, Brigitte, Berliner Zeitung und den Freitag. Ihre Kolumne „Die Helikoptermutter“ erschien bis 2019 monatlich beim Freitag. Seit 2017 ist sie hier feste Kulturredakteurin mit Schwerpunkt Literatur und Gesellschaft.

Katharina Schmitz

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