Die älteren Digital Natives unter uns– das sind laut Duden Personen, „die mit digitalen Technologien aufgewachsen“ und in ihrer „Benutzung geübt“ sind –, erinnern sich noch an die ersten Digital-Detox-Selbstversuche von Journalisten. Was war los? Es herrschte eine aufgekratzte digitale Aufbruchstimmung, manche jedoch, besonders die verdächtigen Kulturpessimisten, fühlten sich immer öfter wie verkatert, quasi kurz vor einem Burnout, sie mussten mal raus aus dem Allen und komplett offline gehen. Burnout, zur Erinnerung, nannte man die ziemlich elitäre Manager-Müdigkeit vor Beginn des digitalen Zeitalters. Die neue Frage war jetzt: Gab es zuviel von diesem Internet? Kam jetzt der Burnout in digital verstärkter Auspr
Doomscrollen bis der Arzt kommt: Wie sehr trägt die Digitalisierung zur Erschöpfung bei?
Meinung Unsere Gesellschaft lebt in der Überforderung: In den Nachrichten wimmelt es vor multiplen Krisen und Kriegen, über allem droht die Klimakatastrophe. Liegen darin die Gründe für ein neues Phänomen, die digitale Erschöpfung?
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Ausgelaugt wegen zu viel Laptop
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gital verstärkter Ausprägung und würde er „viral gehen“, also nicht nur Manager, sondern auch Durchschnittssterbliche in gigantischer Reichweite befallen? 95 Prozent der Deutschen, hörte ich heute Morgen im Radio, sind im Jahr 2023 im Internet unterwegs. Wie viele Stunden Bildschirmzeit das für den Einzelnen bedeutet, weiß man nur zu gut selbst. Die Zahl ist beklemmend.Drollig rückblickend auch die Diskussion über Online-Sucht als klassifizierbare Krankheit und die Zweitmeinung von überzeugten Onlinern, die wie funktionierende Alkoholiker parierten: „Ich bin doch nicht süchtig, es macht einfach Spaß! Ich brauche das Internet für meine Arbeit! Ich surfe gern rum, um runterzukommen!“ Der digitale Zeitgeist produzierte ein selbstbetrügerisches Selbstverständnis. Wo der funktionstüchtige Alkoholiker seinen Exzess schon lange nicht mehr schönreden konnte, galten Onlinesüchtige als die neuen High-Performer. Denn mit der entsprechenden Reichweite sah das Ganze sogar gesund aus.Digital Fatigue – die neue, alte Volkskrankheit?Ist Doomscrolling eigentlich schon klinisch? Doomscrolling beschreibt die „Freizeitbeschäftigung“ von Menschen, notorisch im Internet unterwegs zu sein, und sich alle schlechten Nachrichten/Hate Speech/etc. am Smartphone oder Computer quasi in Echtzeit bis zum Morgengrauen zu geben. Ich weiß es nicht genau, müsste googeln, aber die WHO listet sicher einige solcher neuen Krankheiten, die erst im digitalen Zeitalter aufgetreten sind, immer früher auftreten, wo das Digitale die Ursache ist. Zum Beispiel Kurzsichtigkeit bei Jugendlichen oder Sehnenscheidenentzündung im Daumen, der ständig wischt und tippt. Und was früher der digitale Burnout war, ist neuerdings digital fatigue, die neue alte Volkskrankheit. Gemeint ist eine Erschöpfung, die eintritt, wenn man permanent mit digitalen Tools und Apps hantiert. Die Ironie dabei ist, dass man zur Erforschung der Symptome auch wieder ins Netz muss und sich die Katze dysfunktional in den Schwanz beißt. Die Corona-Pandemie hat die ganze Welt rasant verzoomt und seit den ersten Digital-Detox-Selbstversuchen gibt es selbstverständlich ein ganzes Ratgeber-Genre zum Großthema. Erst im März wieder eins. Der Titel Status: Offline: Der Leitfaden für mehr Balance in einer technikdominierten Welt. Der Autor verspricht eine Anleitung zu einem digitalen Minimalismus, was erst einmal lösungsorientiert klingt. Nach Verhaltenstherapie. Wo ist das Problem? Problematisch ist, was in Ratgebern seltener zu lesen ist. Von politischer Verantwortung zum Beispiel ist in solchen Ratgebern selten die Rede. Oft geht es um die Eigenverantwortung in der digitalen Gesellschaft. Es wird suggeriert, als habe der Einzelne es in der Hand, notfalls eine App für das neue Problem, das erst durch das neue Tool entstanden ist. Selten geht es um demokratische Grundsatzfragen. Also nichts gegen solche Ratgeber, ich bin Fan, nur wie viel Chefsache im Thema politisch drinsteckt, kann man am dafür zuständigen Ministerium ablesen, es heißt Ministerium für Digitales und Verkehr und erinnert irgendwie an das "Ministerium für Frauen und das ganze Gedöns" (Gerhard Schröder, 1998).Immerhin gibt es einen Deutschen Ethikrat, der Stellungnahmen veröffentlicht, zuletzt im März. Indes: offene Briefe, Petitionen, gar ein Aufschrei folgten daraufhin nicht. Man belächelt stattdessen die Mahner gern, sie sind halt oft einfach alt, auf dem Sprung zum Rentnerdasein, da man große Tasten für sein Smartphone braucht. Diese Leute vergessen gern, dass sie selbst alt werden. Oder glauben, mit digitaler Technik prima alt werden zu können. Sie können sich die ultimative Erschöpfung nach dem Eintippen einer IBAN-Nummer oder bei der Suche nach dem achtstelligen Passwort mit Sonderzeichen nicht vorstellen. Oder: Dass man plötzlich in Tränen ausbricht, nachdem man mit einer KI telefoniert hat, die nur Bahnhof verstand. Oder fluchte beim Versuch zu beweisen, kein Roboter zu sein, es einfach nicht schaffte, alle Busse in L.A. oder Ampeln oder Waschbären zu identifizieren. Freunde und Kollegen heulen vielleicht auch manchmal, aber sie wissen nicht wieso. Könnte ja auch Long Covid sein. Oder beides. Gleich mal die Symptome googeln.Weg mit der alten KulturtechnikUnsereins befindet sich im Alltag oft in so einer kafkaesken Situation. Wir machen dafür vollkommen zurecht die radikale Digitalisierung aller Lebensbereiche verantwortlich. Aber, so der Tenor: „Gewöhn dich dran, bald gibt es die Technik zu Deinem Problem, dann sprichst du die IBAN-Nummer eben ein. Oder mach Face-ID!“ Werden hier Dimensionen verkannt? Zum Beispiel, wie wichtig „Haptik“ in einer Gesellschaft ist, geschweige denn Kommunikation mit echten Menschen? Handelt es sich wirklich „nur“ um ein Generationenproblem, wobei Altersdiskriminierung bezüglich digitaler Vorbehalte ja auch keineswegs eine Bagatelle ist? Oder, drastischer, haben digitale Demokratien zunehmend ein Demokratieproblem, wenn jede/r* zur Nutzung digitaler Technologien zunehmend gezwungen wird? Gehört das Recht auf analoge Teilhabe am Leben nicht ins Grundgesetz? Sollte zum Beispiel das Deutschlandticket online und analog nicht absolut gleichberechtigt verfügbar sein? Ist es nicht ein Grundrecht, in bar zahlen zu dürfen? Ein Grundrecht, einen Arzttermin telefonisch buchen zu können? Würde das Analoge in der Maslowschen Bedürfnispyramide eine Rolle spielen?Das große gesellschaftliche Problem ist, dass Politik im digitalen Zeitalter die negativen gesellschaftlichen Auswirkungen quasi privatisiert und zu wenige ethische Fragen ernsthaft debattiert werden. Es bräuchte mehr Debatten über den kulturellen Wandel, der mit der Digitalisierung einhergeht. Stattdessen werden dramatische Kulturverluste heruntergespielt. Beispiel: Ich kann meine eigene Handschrift nicht mehr entziffern, ich schreibe ja kaum noch. Ja, na und? Weg mit der alten Kulturtechnik. Für den Einkaufszettel gibt es eine digitale App. Oder für die To-Do-Liste, auf der steht ganz oben: Digitalen Nachlass veranlassen! Sky-Abo kündigen!Digital Fatigue. Das Problem oder der Skandal ist, dass man nicht einfach individuell digital kürzer treten kann, wie noch die Digital-Detox-Generation, als das alles anfing mit dem Internet. Warum? Weil der Alltag dann in Teilen ins Blackout fallen würde. Weil unsere Gesellschaft bereits so stark in digitale Infrastrukturen implementiert ist, dass einem das Analoge wie Wildnis vorkommt, wie ein kleines Reservat für seltsame Aussteigertypen, wo es dann auch politisch wird. Ich meine, ich bin keine „Reichsbürgerin“, ich horte im Keller keine einzige Glühbirne. Ich organisiere mein Leben mit zahlreichen Apps für Bank, Strom, Yoga, Paypal. Aber es muss digital-analoge Wahlfreiheit geben. Der deutsche Ethikrat titelte kürzlich: „Künstliche Intelligenz darf menschliche Entfaltung nicht vermindern“ und beschrieb in seiner Stellungnahme, was alles gerade passiert und nicht weiter passieren darf. Digital naiv wäre zu denken, dass es nicht so kommt. Und wenn jetzt sogar Tech-Giganten wie Elon Musk warnen und als erstes „Digitalexperten“ wie Saskia Esken und der Bundesminister für Digitales und Verkehr Volker Wissing zu Stellungnahmen gebeten werden, krieg ich schon wieder digital fatigue.