Eckrentner am Ende

Ruhestand Die Rente ist gerade für Frauen oft nicht mehr sicher. Und doch machen wir uns viel zu wenig Sorgen um unsere Altersvorsorge. Kristina Vaillant will das ändern
Ausgabe 42/2016

Den Zungenbrecher Prokrastination, das pathologische Aufschieben einer Aufgabe also, kennt man salopp auch als Studentensyndrom. Notorisches Aufschieben grassiert aber natürlich überall. Greift man sich an die eigene Nase, juckt es, herrje, die Steuererklärung. Krankhaft soll Aufschieberitis sein, wenn der Patient so lange und unter hohem Leidensdruck auf morgen verschiebt, obwohl seine Taktik konkrete Sanktionen zur Folge hat.

Kommen wir ohne Umschweife zum leidigen Thema Rente, hier ist die Dunkelziffer der Prokrastinierer vermutlich gigantisch. Dabei wird jedem zweiten Erwerbstätigen, „der im Jahr 2030 aus dem Berufsleben ausscheidet, eine Rente auf Sozialhilfeniveau vohergesagt“. Das schreibt Kristina Vaillant in ihrem gut informierten Buch Die verratenen Mütter. Nach ihrem Bestseller Die verratene Generation. Was wir den Frauen in der Lebensmitte zumuten geht es also um die Rente.

Und auch dies ist ein Buch, das vor allem die Lage der Frauen beschreibt. „Rentnerinnen in Deutschland bekommen laut dem aktuellen Rentenversicherungsbericht nach Abzug von Beiträgen zur Kranken-und Pflegeversicherung durchschnittlich 583 Euro Rente im Monat ausgezahlt. Das ist nur etwa halb so viel wie die durchschnittliche Rentenzahlung von 1.006 Euro, die Männer erhalten. Eine Rentenlücke von fast 50 Prozent.“

Nirgendwo sonst in Europa und auch nicht in den 34 OECD-Mitgliedstaaten ist die Rentenlücke so hoch. Vaillant spielt aber Mann und Frau, und das muss man ihr hoch anrechnen, nicht gegeneinander aus. Unter der Absenkung des Rentenniveaus und dem Zerfallen des Solidaritätsgedankens leiden auch Männer. Was natürlich nicht heißt, dass die Autorin die Unterschiede (auch zwischen Ost und West) nicht herausarbeitet, Ursachen und Wirkungen festhält, Vorschläge macht. Frauen verfügen beispielsweise seltener über Betriebsrenten, weil sie überdurchschnittlich im Dienstleistungssektor arbeiten. Dabei wäre die Betriebsrente eine interessante Säule für ein anderes, besseres Rentensystem.

Dass die Renten nicht mehr sicher sind, hat sich herumgesprochen. Und viel ist die Rede davon, dass immer noch viel zu wenige Deutsche die Konsequenzen ziehen und so vorsorgen, dass sie nicht in die Altersarmut abrutschen. Viel zu wenig wird aber darüber gesprochen, dass die meisten Deutschen ohnehin nicht vorsorgen können. Sie haben sich daher in einem gewissen Fatalismus eingerichtet.

Mütter schon gar nicht

Das fängt schon damit an, dass der „Eckrentner“ als statistisches Idealmaß der Deutschen Rentenversicherung entweder schon tot oder einer der Letzten seiner Generation ist. Dieser Eckrenter hat direkt nach seiner Ausbildung 45 Jahre in Vollzeit gearbeitet, bei einem Stundenlohn von etwa 17 Euro. Selbst Männer können eine solche Erwerbsbiografie kaum mehr vorweisen. Mütter schon gar nicht. Nach der Geburt gehen sie meist nicht mehr in Vollzeit, oft auch notgedrungen, weil der Arbeitsmarkt gar nichts anderes hergibt als Mutti-Schichten.

Pro nicht gearbeitetem Jahr verliert man aber einen Rentenpunkt. Und rutscht unter die durchschnittlichen 1.300 Euro im Monat, von denen aber noch die Krankenversicherung abgeht. Eine Ironie der Rentengeschichte ist, dass heute zwar viel mehr Frauen erwerbstätig sind, die Rentenerwartungen der geburtenstarken Jahrgänge aber nur unwesentlich über dem liegen, was die Geburtenjahrgänge 1947 bis 1951 heute an Rente erhalten. „Und das, obwohl die Frauen (…) wesentlich höhere Bildungsabschlüsse erreicht haben und zu über 80 Prozent berufstätig sind.“

Also privat vorsorgen? Die Riester-Rente macht nur als Flop Schlagzeilen, nichts Genaues weiß man nicht, man prokrastiniert ja und zahlt trotz des schlechten Rufs von Riester (und Rürup) wenigstens einen psychologischen Betrag, nicht selten in der surrealen Hoffnung, es wird sich schon alles nicht zum Schlechtesten wenden.

Nach heutigem Gesetzesstand wendet sich aber erst mal nichts zum Besten. Kaum bekannt ist nämlich, dass die Riester-Rente auf die Grundsicherung angerechnet wird. Das letzte Fünkchen Solidargefühl macht diejenigen zu Idioten, die nicht einfach nur diese Grundsicherung in Anspruch nehmen wollen.

Ein Politikum

Was also tun? Beim Lesen von Vaillants Buch wird einem klar, wie wenig informiert man eigentlich ist. Wie bitte? Die Riester-Rente wird angerechnet? Krankenversicherung muss ich selbst zahlen? Man lernt aber auch, das Rentensystem muss floskelfrei gerechter werden. Und visionärer. Schließlich kommt man durch die Lektüre des Buchs auf die Idee, dass ein Modell auf dem Bierdeckel, eine Grundsicherung, die anrechnungsfrei ist, plus steuerfreiem Zuverdienst plus kostenlosem Krankenversicherung, besser funktionierte. Auch psychologisch. Womit wir wieder beim Thema Prokrastination wären. Ein interessantes Buch, nicht zuletzt weil die Autorin dafür wirbt, die eigene Rentenbilanz nicht als persönliches Versagen zu begreifen. Das Existenzrisiko im Alter darf keine Privatsache sein. Es ist ein Politikum.

Info

Die verratenen Mütter. Wie die Rentenpolitik Frauen in die Armut treibt
Kristina Vaillant Knaur 2016, 160 S., 12,99 €

Die Fotos der Beilage

Nikita Teryoshin wurde 1986 in St. Petersburg geboren, das damals noch Leningrad hieß, und lebt seit 2000 in Deutschland. Erst studierte er an der Essener Folkwang-Schule Fotografie, dann in Dortmund. Aber primär fotografiert er einfach. Über die Jahre entstand so eine Sammlung von Bildern, die er, wie er selbst sagt, „ganz ohne Augenzwinkern“ in die Kategorien Street, Documentary & Everyday Horror unterteilt: irgendwo zwischen entfesselter Dokumentarfotografie und subjektivem Journalismus. Am liebsten arbeitet Teryoshin auf eigene Faust, er kooperiert jedoch auch mit nationalen und internationalen Zeitungen und Magazinen wie „The Daily Mail“, „Emerge“, „Galore“, „Vice“ oder „Wired“. Die Fotografien für unsere Beilage stammen aus seiner Serie „space time discountinuum“. Mehr unter teryoshi.com

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