Ein Leben lang

Schuld Debüt: Reinhart Stöckels ­Familienroman „Der Lava­gänger“ erzählt deutsche Geschichte

Henri Helder ist Bahnangestellter bei Rail4you in Cottbus – er koordiniert Züge, berechnet An- und Abfahrten, so öde wie seine Arbeit verläuft bisher sein ganzes Leben. Aber dann wird seine Frau Susanne nach Brüssel versetzt, sein Job scheint gefährdet, gefürchtete Familienfeste stehen an. Helder, Mitte Vierzig, gerät in eine Lebenskrise. Damit nicht genug, ereignen sich seit kurzem sonderbarste Dinge, der Großvater spaziert nicht nur durch seine Träume, er erscheint ihm leibhaftig, am helllichten Tage – mit flammenden Schuhsohlen.

„Der Lavagänger“, so nennt die Familie den verschollenen Großvater lakonisch, angeblich soll es diesen, nachdem er Frau und Kinder sitzen gelassen hatte, auf die Lavafelder von Hawaii verschlagen haben. Der Lavagänger lautet auch der Titel des ersten Romans des 1956 geborenen Cottbusser Autor Rainer Stöckel. Der gelernte Bibliothekar ist Absolvent des Leipziger Literaturinstituts. Es ist die virtuos erzählte Geschichte einer deutschen Familie.

Eigentlich weiß Henri Helder nichts über diesen Großvater. Er erbt bloß ein Paar alter Schuhe von ihm, die sich allerdings zum Dingsymbol des Romans entwickeln. Legen sie erst eine Spur, und erzählen dann eine Geschichte, stehen sie am Schluss für das corpus delicti. Zunächst aber sieht Helder in ihnen einen Affront aus dem Jenseits. Er lässt sie stehen im Hotel, wo man sie ihm nachsendet. So wie er sie endlich anzieht, nimmt die Geschichte an Fahrt auf – Helder fängt an, Fragen zu stellen.

Aufs Meer hinaus

„Warum ist der Großvater eigentlich damals verschwunden?“ In dieser Familie wird viel verschwiegen und oft nur die halbe Wahrheit gesagt, seit Kindertagen meint Helder ein Geheimnis zu ahnen: „Da stand der Vater mit seinen schmalen haarigen Waden im flachen Wasser, und seine dünnen, sonst glatt gekämmten Haare tanzten mit dem Winde, während er aufs Meer hinaufblickte, nein starrte. ... Ja – der ganze Vater schien erstarrt. Mit seinem hinter dem Schalter rund gesessenen Rücken stand er da, wie von einer unsichtbaren Last an jeder weiteren Bewegung gehindert. Einen Moment lang fürchtete Henri, der Vater würde, wie er so stand, auf immer und unwiederbringlich im Meer versinken.“

Nicht nur das Unausgesprochene lastet auf dem Helden, auch eine wiederkehrende Floskel des Vaters stimmt ihn unbehaglich: „Einer schaut immer zu“. Es ist der Hinweis auf eine verdeckte Schuld. Großvater, Vater und Sohn haben sich in sie verstrickt. Schuld ist das zentrale Motiv dieses Romans, sie zeigt viele Gesichter und ist ein ständiger Begleiter: „Manchmal ist es gerade das, was jeder versteht und jeder entschuldigt, das wir uns selbst nicht verzeihen. Eine Schuld, die wir um unser selbst willen mit uns tragen, ein Leben lang.“

Will Helder seine Krise bewältigen, muss er diese Schuld zum Sprechen bringen, muss herausfinden, warum der Großvater einst die Familie verlassen hat und nach Übersee aufgebrochen ist. Dabei kommt er nicht nur einem Familiengeheimnis auf die Spur. Es sind über 100 Jahre (deutscher) Geschichte, die auf diesen fast 380 Seiten erzählt werden. Manchmal denkt der Leser dabei an lateinamerikanische Erzähler, noch öfter sieht er sich aber im Kino, steht an Filmschauplätzen und besetzt vor dem inneren Auge schon die Rollen.

Ein armer Junge

Vieles klingt ungeheuerlich, ist aber durch die „verrückte“ Zeit, von der erzählt wird, durch die Erfahrung von Kaiserreich, zwei Weltkriegen, DDR und Wendezeit gleichsam sanktioniert. Eine weitere Wende im „(Dreh-)buch“ kommt dann zum richtigen Zeitpunkt – die nicht ganz so senile Tante ist nämlich nicht unschuldig an ein paar kuriosen Zufällen in diesem Roman.

Ob sich das Leben von Henri Helder mit demLösen der Familienrätsel verändert, bleibt offen. Einmal raucht er heimlich in seinem alten Jugendzimmer, über ihm ein Plakat der Rolling Stones: „well then what can a poor boy do“ – ein Kommilitone hatte seinerzeit hinzugefügt „except to work as a railway man“. Am Ende dieses gelungenen Romans hat man das Gefühl, dass nun der nächste Film losgeht. Ein Roadmovie, das in Cottbus startet, warum auch nicht, vielleicht mit Helder in der Hauptrolle.

Reinhard Stöckel, Roman, Aufbau, Berlin 2009, 379 S., 19,95 Der Lavagänger

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Geschrieben von

Katharina Schmitz

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Literatur“

Katharina Schmitz studierte Neuere Geschichte, Osteuropäische Geschichte, Politikwissenschaften, Vergleichende Literaturwissenschaften und kurz auch Germanistik und Romanistik in Bonn. Sie volontierte beim Kölner Drittsendeanbieter center tv und arbeitete hier für diverse TV-Politikformate. Es folgte ein Abstecher in die politische Kommunikation und in eine Berliner Unternehmensberatung als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Ab 2010 arbeitete sie als freie Autorin für Zeit Online, Brigitte, Berliner Zeitung und den Freitag. Ihre Kolumne „Die Helikoptermutter“ erschien bis 2019 monatlich beim Freitag. Seit 2017 ist sie hier feste Kulturredakteurin mit Schwerpunkt Literatur und Gesellschaft.

Katharina Schmitz

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