Free Kirill

Russland Am Deutschen Theater kommt Kirill Serebrennikovs „Decamerone“ auf die Bühne. Der Liebes- und Sexreigen lässt ratlos zurück, aber die russische Sprache ist schön

Zum Schluss traten das Ensemble, die Musiker und das Regie-Team alle mit einem Shirt auf die Bühne, auf dem „Free Kirill“ stand, und man argwöhnte doch, ob man die Standing Ovations jetzt vor allem als Solidaritätsgeste für den Regisseur Kirill Serebrennikov zu interpretieren hatte, ob sich also alle einfach freuten, dass diese hürdenreiche Inszenierung geklappt hat. Toll genug war ja, dass die deutsch-russische Kooperation überhaupt auf die Bühne kam. Ursprünglich war die Inszenierung von Decamerone schon für die vergangene Spielzeit geplant, jedoch aufgrund eines umstrittenen Strafprozesses gegen Serebrennikov – die russischen Behörden werfen ihm Veruntreuung von Steuergeldern vor – verunmöglicht worden. Von Sommer 2017 bis April 2019 hatte man den Regisseur unter Hausarrest gestellt, aus Russland raus darf Serebrennikov bis heute nicht. Weshalb die Premiere im Deutschen Theater ohne ihn stattfand.

Nur einem Zuschauer, links im Publikum, wurde der Jubel wohl zu viel: er buhte mit großer Verve und riskierte als Putinversteher missverstanden zu werden. Rausgehen sah man den echten Martin Wuttke mit diesem Martin Wuttke-Gesicht, Hände in den Hosentaschen.

Wie war's denn nun? Ziemlich düster, sehr fremd. Die Liebe in Kyrill Serebrennikovs Inszenierung nach Motiven von Giovanni Boccaccios Decamerone kennt wenig Ambivalenzen, sie ist martialisch, böse, eine Urgewalt, verhängnisvoll, sie ist das Feuer, in dem man sich vor Liebe verzehrend umkommt, eine ziemlich abwegige Veranstaltung ist diese Liebe. Was dieser Liebe komplett fehlt: ein Funken Selbstironie, die hoffnungslos Liebende irgendwie mal wegholt vom törichten Liebeswahn und Kummer, man würde zwar eventuell weiter töricht lieben, aber doch auch immer mitdenken, wie total töricht man ist, tendentiell dumm.

Für einige Proben zu Decamerone zusammen mit dem Gogol-Center in Moskau, dessen Leiter Serebrennikov seit 2012 ist, war man nach Moskau geflogen, für die letzten Proben hatte man den Regisseur zugeschaltet, es wurde ein bilinguale Produktion in russischer und deutscher Sprache. Eine Behelfslösung, die nun im Stück am wenigsten störte, auch dank des gelungenen Bühnenbildes mit in das Bühnenbild integrierten „Untertiteln“ – was man Cineasten nicht erklären muss, die wissen, dass das Original mit Untertiteln meist sehenswerter ist als die Synchronfassung, sowieso: in einer globalisierten Welt ist die sogenannte Welterfahrung, ist Gegenwart längst mehrsprachig zu verstehen, überhaupt: die russische Sprache ist schön. Und schön auch, wenn Aleksandra Revenko auf Deutsch lustvoll schreit: ICH. DICH. NICHT. Sie liebt ihn einfach nicht. Männer, die zu anhänglich sind, nerven sehr. Großartig spielt auch Yang Ge, die böse cybermobbende Chat-Schöne, Cellulitis wird die Rache sein.

Wenn man sich vorstellt, wie man Leif Randts viel gelobten, für den Leipziger Buchpreis nominierten Roman, Aquarell Pastell, (den man nicht gelesen hat, genauso wie man Boccacios Original nicht studiert haben muss, um diese Inszenierung zu verstehen) mal auf einer Bühne wirken könnte, nämlich wie eine – wenn man den Kritikern glauben darf – extrem zeitgenössische Beobachtung Liebender und Lebender in Zeiten von Instagram, in einem „durchkuratierten Leben“, wie es ein Kritiker beschrieb und mit perfekt orchestrierter, ständig mitreflektierter Selbstreferentialität, man hätte dann einen „Wirklichkeitseffekt, der sogar Rainald Goetz alt aussehen“ ließe und vielleicht sogar den Regisseur René Pollesch. Dagegen wirkt dieser Decamerone hier für uns Menschen im Zeitalter der Psychologie oder im Zeitalter der digitalen Transformation oder der Klimaapokalypse doch etwas wie eine gestrige Hölle. Man fragte sich, und vielleicht fragte sich das auch Martin Wuttke, der Pollesch-Schauspieler, wer sollen diese Leute sein, wo leben diese Leute, im Heute, in den 80ern, wo? Und Georgette Dee, die versuchte, auf dramatischen Metaebenen zu singen, wirkte wie sie damals in den späten 80ern und frühen 90ern gestrahlt haben mag, im Westberliner Exil, drumherum die DDR, bald Ex-DDR, extrem glamourös, nur hier als tragische Diva seltsam deplaziert, sie brachte aber die Queerness ein bisschen hinein, die in diesem sehr heteronormativen Szenario fehlte.

Boccacios Rahmenhandlung setzt bekanntlich mit der Pest in Florenz ein, vor der zehn junge Frauen und Männer auf einen Landsitz vor der Stadt fliehen. Eigentlich sollte es bei Serebrennikovs Adapation um das Altern (und die Liebe) gehen. In der Anfangsszene trainieren „echte Frauen“ (die nachher ihre echten Liebesgeschichten erzählen) in einem Fitnessstudio, die Fitness-Trainerin (Almut Zilcher) starrt derweil auf den jungen Schauspieler-Körper, der auch mitturnt, während sie den Seniorinnen halbherzige Gymnastik-Tipps gibt. Wie überhaupt die Frauen nicht ganz so gut wegkommen in diesem Stück, was okay ist, Fragen von Gender und Gewalt und Macht nochmal zu drehen, das ist auch nicht misogyn gemeint, aber keine Motivation wirkt irgendwie authentisch, so richtig nachvollziehbar. Die Fitness-Trainerin spielt ihre Rolle dabei so, dass man leider denkt, es wäre am Kudamm in einer ernsten Komödie über Frauen, die über das Altern nachdenken, lustiger, ernster, es wäre wirklich lustiger und ernster, es würde nicht so nach ironischer Comedy-Ironie ausehen.

Die Frauen tragen immer mal wieder Mundschutz und erinnern an die Pandemie, die uns gerade alle heimsucht, es lässt sich kaum vermeiden, sich zu fragen, wie das Deutsche Theater die Masken organisieren konnte. Aber das wäre nun kleinkariert. Und sicher waren sie gut gebastelt. Trotzdem bleiben die kleinen Bühnennovellen disparat, es gibt einzelne, stark gespielte Szenen in den modern getrimmten Geschichten. Es gibt Neurosen, Intrige, Geld, Macht, Social Media, Mobbing, Maskulinismus, Wellness, Rache, Intrige, Macht – und dann auch noch die alte Geschichte der traurigen Oberstleutnant-Tochter (Regine Zimmermann), die sich unsterblich in einen Soldaten verliebt, der dann von ihrem Vater (grandios: Oleg Gushchin) umgebracht wird, es will einem das Herz auch hier nicht bluten.

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Geschrieben von

Katharina Schmitz

Redakteurin Kultur

Katharina Schmitz

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