Den Titel dieses verdammt guten Romans kann man nicht so gut aussprechen: Das Leben des Vernon Subutex. Das Leben von wem? Sollte man diesen Namen auf Englisch aussprechen? Aber der Roman kommt ja aus Frankreich. Mit englischem Akzent und auf Französisch ausgesprochen, hört er sich recht hochnäsig an, versnobt und arrogant, also wie die Franzosen, genauer gesagt die Hauptstadtfranzosen, bekanntlich nunmal sind: Willkommen in der Pariser Hautevolee, um deren Abgründe geht es nämlich in Virginie Despentes’ Roman. Und natürlich sind es nicht nur die Abgründe der anderen, der Leser höchstselbst wird sich adressiert fühlen.
Despentes’ Figuren sind alle um die fünfzig, glücklich ist hier kein Mensch, gestört sind sie alle. Es gibt den Familienvater Patrice, der die Frauen schon immer geschlagen hat, jetzt schlägt er Cécile, er kann nicht anders. Oder: Dopalet. Vom Ehrgeiz zerfressen, hat er eine Lust daran, Konkurrenten im Internet fertigzumachen. Dafür engagiert er die geheimnisvolle „Hyäne“, die ohne Skrupel jeden schmutzigen Auftrag erfüllt. Die Hyäne hat aber auch softe Seiten. Was noch: Einsamkeit, Älterwerden, Karriere.
Despentes schreibt, als hätte sie ein paar (Proto-)Typen aus ihrem Bekanntenkreis gefischt und die Charaktere so verfremdet, dass es für ihre scharfe Milieustudie keine Klagen gibt. Die Gehässigkeit der sexuell und seelisch ausgehungerten Sylvie jedenfalls ist umwerfend beschrieben und, man muss es zugeben: vermutlich keinesfalls überzeichnet. Fast alle haben Geld – bis auf die Hauptfigur Vernon Subutex. Vernon ist pleite. Das Amt hat ihm die Stütze gestrichen. Die Miete hat er wieder nicht bezahlt und er kann kaum glauben, dass das jetzt wirklich passiert: Er soll unverzüglich aus seiner Wohnung raus.
Falls Sie im Buchladen iIhres Vertrauens also nach Das Leben des Vernon Subutex fragen wollen, denken Sie sich etwas aus. Sehr wahrscheinlich findet sich der Roman sowieso auf Anhieb, denn in Frankreich ist Virginie Despentes’ Trilogie eine Sensation. Sie wird als weiblicher Balzac gefeiert, das Personal ihrer Geschichte, die ursprünglich von ihr als ein einziges Werk geplant gewesen sein soll, das sie eher noch kürzen wollte, als es auszuweiten, ist wie in der Menschlichen Komödie angeordnet. In ihren zeitgenössischen Verlorenen Illusionen geht es um die Abgehalftertheiten von Fifty-something-Parisern aus dem Film- und Musikbusiness. Die Branche ist aber eigentlich egal. Wenn man das neurotische verstimmte Klima als symptomatisch für die Jetztzeit begreift, kann man sich sehr gut Überschneidungen mit anderne Milieus, Verbindungen bis hin zum neuen Präsidenten Macron vorstellen, diese ganze postmoderne Verkommenheit, traditionell à la française.
Der weibliche Houellebecq
Despentes’ epische Lässigkeit wurde mit der amerikanischen Serie The Wire verglichen, (die zu schauen ja wie Balzac zu lesen sein soll). Fehlt noch ein Superlativ: Sie erinnert stark an Michel Houellebecq, in seinem verdüsterten Blick auf das Abendland und seine so müden und zugleich triebhaften Menschen.
Der erste Subutex-Band erschien im Januar 2015, gleichzeitig schrieb Despentes schon am zweiten Band, im Herbst 2016 erschien der dritte Teil. Man muss sich dazu die Attentate von 2015 und 2016 vorstellen, das Massaker in der Redaktion von Charlie Hebdo, zwei Tage später den Anschlag auf einen koscheren Supermarkt, Bataclan, Nizza, man bringt schon die Reihenfolge der Schrecknisse durcheinander. Der Terror jedenfalls läuft nicht nur wie ein beklemmender Subtext durch die Geschichte, da ist zum Beispiel Aїcha, die Tochter eines Ex-Pornostars, sie hat sich religiös radikalisiert. Was hat das zu bedeuten? Führt sie mehr im Schilde?
Oder: Xavier, ein Jugendfreund von Subutex, den er in seiner Not kontaktiert, äußert sich neuerdings ungeniert islamophob. Oder war es antisemitisch? Oder war er schon immer so? Despentes zeichnet das Reaktionäre der Figuren so raffiniert, dass man als Leser nicht ausschließen kann, selbst so einen inzwischen politisch abgedrifteten Freund persönlich zu kennen. Wie zynisch ist man eigentlich selbst geworden?
Die Hauptfigur Vernon Subutex ist ein Getriebener, der sich treiben lässt, es ist übrigens sein Profilname auf Facebook. Als er nach 25 Jahren seinen Plattenladen Revolver an der Bastille aufgeben muss, braucht er erst ein Jahr, um zu lernen, im Bett zu bleiben. Dann kann er die Arbeitslosigkeit genießen, es wird sich schon was ergeben, es ergibt sich aber nichts. Mit Vernon verfolgt man nun eine exemplarische Abstiegsgeschichte: Vernon, früher Frauenheld mit gutem Musikgeschmack, bevor die Schallplatte ein Relikt von gestern wurde, eine Pariser Kiezlegende. Anfang der 2000er läuft das Geschäft immer schlechter, er muss den Laden schließen. Vernon ist wie die Platte, eine Rarität aus dem alten Jahrtausend. Dann stirbt innerhalb kurzer Zeit erst sein Jugendfreund Bertrand an Krebs. Jean-No kommt bei einem Unfall ums Leben. Und Pedro hat zu viele Drogen eingeworfen. Die Krise ist perfekt, als der Musiker Alexandre Bleach tot in seinem Hotelzimmer aufgefunden wird. Der hatte Vernon zuletzt immer die Miete bezahlt. Das Interview auf Video, das er hinterlässt, ist der rote Faden, der den Roman zudem spannend macht. Was wurde in diesem letzten Interview gesagt? Ist das ein Skandal? Lässt sich daraus Kapital schlagen?
Der erste Band der Trilogie stand monatelang auf den französischen Bestsellerlisten, wie auch der zweite Teil, beachtliche 300.000 Mal verkaufte sich der erste Band, 200.000 Mal die Fortsetzung. Despentes hat gesagt, dass sie einen Roman über Leute um die 50 schreiben wollte, über Leute, die sich in „komplizierten“ Situationen befinden. Sie wollte alle sozialen Klassen der französischen Gesellschaft abbilden, die sie als „trist und depressiv“ empfindet. Es klingt, als wäre ihr nur aus Versehen dieses Sittengemälde gelungen, sie hat den Nerv einer nervösen Gesellschaft getroffen. Vernon Subutex war für mehrere Preise nominiert, er wurde unter anderem mit dem Prix Anaїs Nin ausgezeichnet. Manche erinnern Despentes, die Anfang des Jahres in die renommierte Académie Goncourt gewählt wurde, noch als Autorin und Regisseurin von Baise-moi (Fick-mich!), der Anfang der nuller Jahre für einen Riesenskandal gesorgt hatte. Fick mich! zeigte viel Sex und eine Vergewaltigungsszene. Der Film wurde erst ab 16 freigegeben, dann ab 18, dann mit einem X versehen, er durfte nur noch in französischen Pornokinos gezeigt werden. Es war ihr Debüt. Von den abgefuckten Randexistenzen zwischen 20 und 30 hat sie sich nun hinein ins Bürgertum geschrieben. Man ist gespannt, wie es mit „Sübütex“ weiter geht, so gesehen, ist Vernon einer von uns.
Info
Das Leben des Vernon Subutex Virginie Despentes Claudia Steinitz (Übers.), Kiwi 2017, 400 S., 22 €
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