Essay Der Psychoanalytiker Carlo Strenger sieht die Freiheit in Gefahr. Wir müssen sie neu verstehen lernen. Raus aus der Komfortzone, rein in den (verbalen) Kampf
Kein mehrheitsfähiges Konzept: Robert De Niro in „Wie ein wilder Stier“
Foto: Scott Bryson/Sygma Premium/Getty Images
Man sollte lernen, Neid auszuhalten und Zorn oder sogar Ressentiments auszuleben, freilich so, dass dabei die eigene Urteilskraft nicht ausgeschaltet wird, provozierte der schweizerisch-israelische Publizist Carlo Strenger in seinem Essay Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit (Suhrkamp 2015). Neid, Zorn, Ressentiment: Ja, vielleicht wäre die Welt eine andere, wenn wir offener zugeben könnten, dass derlei Gefühle (fast) jeden anfliegen, nicht nur die üblichen Verdächtigen.
Aber so ist es ja nicht, unsere Debatten sind verfahren und hasserfüllt, wobei natürlich immer nur der Hass der anderen hassenswert ist. Und am Ende gewinnen die Populisten. Carlo Strenger ist Psychoanalytiker, als solcher hält er es mit den unange
#228;lt er es mit den unangenehmen Tatsachen und sagt er, dass kein Mensch wirklich respektieren könne, „was er in Wahrheit für unmoralisch, irrational oder einfach dumm“ halte.Die linksliberale Kultur des kleinsten gemeinsamen Nenners, der niemanden ausschließe, sagt Strenger, habe zu einer Generalabsolution von religiösen, weltanschaulichen und kulturellen Praktiken geführt. Die Verteidigung der sogenannten freien Welt sei an die politische Rechte delegiert worden (die kritische Vernunft bekanntlich mit Ressentiment verwechselt). Strenger sagt weiter, der westliche Egalitarismus habe zu einer Verzerrung des aufklärerischen Toleranzprinzips geführt, zu einer intellektuellen Einschüchterung. Vor allem die Religion – wobei er hier ausdrücklich alle abrahamitischen Religionen meint – lasse das Toleranzprinzip an seine Grenzen stoßen. Wer antiliberale Strömungen jeglicher Couleur bremsen will, kann nicht einfach tolerant bleiben. Er muss noch etwas anderes tun. Das Prinzip dafür nennt Strenger „zivilisierte Verachtung“.Sich in falscher Toleranz zu sonnen, scheint angesichts der Weltlage eine unheilvolle Mischung aus Ignoranz und Luxus. Aber ist die Rede von der falschen Toleranz, wie Strenger sie führt, nicht immer auch ein Vorwand, etwas angeblich Tabuisiertes in einem Klima der „Ideologie der politischen Korrektheit“ zu behaupten? Das sind so Fragen, die uns heute herausfordern – man denke gerade nur an die „Nafri“-Debatte. Definitive Antworten scheint es einstweilen nicht zu geben.Strengers neuster Essay Abenteuer Freiheit. Ein Wegweiser für unsichere Zeiten betrachtet das Drama des Westens – Radikalisierung vieler Muslime und Aufstieg der radikalen Rechten – nun aus anderer Perspektive. Er will diagnostizieren, warum der sogenannte Westen zu müde ist, um seine Werte gegen Islamismus, Terror und Rechtspopulismus kraftvoll zu verteidigen. Seine Überlegungen sind oft nicht neu, das sagt er selbst, viele Ansätze findet man so oder ähnlich auch woanders, aber die Bezüge zu Spinoza, Nietzsche, Foucault, zur Psychoanalyse, zu Michel Houellebecqs Unterwerfung werden von ihm in kluge Kontexte gesetzt.Wissenschaft und AbenteuerCarlo Strenger hält zunächst fest, dass wir uns im Westen in einer „höchst unwahrscheinlichen Periode“ befinden. In dieser Periode relativen Friedens sind drei Generationen herangewachsen, die keine andere Welt kennen. Man muss sich aber bewusst machen, dass die Jahrzehnte zwischen 1914 und 1989 ein ständiger, blutiger Kampf zwischen Liberalismus, Kommunismus und Faschismus gewesen sind. Das bürgerliche Denken, die Verantwortung des Einzelnen, war dagegen schwach, eine Schwäche, die Strenger ideengeschichtlich auf Jean-Jacques Rousseau zurückführt. Die westliche Gesellschaft sei extrem vom rousseauschen Gedanken geprägt, dass der Mensch von Natur aus frei sei – und in Ketten liege. Die Tragik: Der Einzelne versteht unter dem Befreiungskampf der Gattung heute nicht viel mehr als eine permanente Selbstoptimierung.Angeraten wäre, sich an den alten Griechen zu orientieren und die Freiheit als eine Errungenschaft zu sehen, die sich der Mensch ständig neu erarbeiten muss. Auch Sigmund Freud vertrat die Position, dass Freiheit und Glück keine Geburtsrechte sind. Die modernen Gesellschaften haben zwar dank Wissenschaft und Technik die Risiken extrem minimiert, demgegenüber ist die inviduelle Entscheidungsfreiheit extrem gewachsen. Es fehlen die „metaphysischen Trostsysteme“, die woanders im Angebot sind. Das lässt sich auch nicht einfach ändern: Strenger sagt, kritisches Denken dürfe sich davon nicht einschüchtern lassen. „Wir müssen den Glauben der anderen respektieren“, aber nicht respektieren müssen wir den Glauben selbst.„Selbstverständlich sollten wir jedem einzelnen Menschen mit Respekt begegnen, denn das gebietet die Menschenwürde. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass wir die Überzeugungen und Handlungen eines jeden Menschen respektieren, also achten und wertschätzen müssten“, formulierte er seine Position in einem Interview für den Tages-Anzeiger.Umgekehrt sollten wir für unsere „eigene Überzeugung einstehen“, aber wie? Wir sollen die Freiheit als Abenteuer erleben, sagt Strenger, den Boxring als Allegorie für die menschliche Existenz erkennen, wie uns das Robert De Niro in Martin Scorseses Wie ein wilder Stier aus dem Jahr 1980 vorgeführt hat. Die menschliche Existenz sei tragisch, grundsätzlich.Carlo Strenger lehrt Psychologie und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Vor 15 Jahren ist der Schweizer nach Israel emigriert. Er lebt seither in einem terrorerprobten Land. Vielleicht auch deshalb kann Strenger manches unverfänglicher benennen und einfordern als vielleicht ein älterer bleicher Herr der Kragenweite Sloterdijk. Seit 15 Jahren arbeitet Strenger überdies in der Terrorforschung, das machte ihn zuletzt auch zu einem interessanten Gesprächspartner für die Frage, wie Deutschland mit dem Terrorismus im eigenen Land umgehen soll.Scham, Schuld und Versagen„Ich bin linksliberal“, sagt er von sich und setzt ein Aber dazu: „Die Linke sah den Terror lange als Folge von Benachteiligung und Armut. Man durfte ihn nicht einmal als islamistischen Terror bezeichnen. Mir geht es dabei weniger um die Begrifflichkeit als um einen korrekten Umgang mit den Fakten.“Vieles an seinem neuen Essay ist anregend, aber der Vorschlag, Freiheit als ein Konzept zu akzeptieren, das naturgemäß Schmerzen bereitet, klingt eher (noch) nicht mehrheitsfähig. Mensch hofft eben doch, dass er in einem Film wie Magnolia, wo es nur so wimmelt von Figuren, „die mit Scham, Schuld und Versagen leben und sterben“, mindestens der zufriedene Krankenpfleger ist. Aus dieser Position schreibt sich auch leichter gegen das Schwere an der Freiheit. Noch verdrängen wir, was uns unmittelbar angeht, obwohl die Komfortzone beängstigend bröckelt.Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.