Das Neue Jahr, der glamouröse Neuanfang ist ja doch eine mehr oder weniger optimistische Hilfskonstruktion für den neuen Mut der Verzweiflung, eine Illusion. Viel mehr hangeln wir uns doch an den diversen (Jahres-) Tagen unseres Lebens entlang, halten es vielleicht wie Susan Sontag, die in ihrem legendären Rolling-Stone-Interview von 1979 sinngemäß sagte, dass sie unermüdlich versuche, etwas über sich herauszufinden, etwas, was sie noch nicht wisse.
Keiner gestorben, das ist für viele schon mal die beste Nachricht. Nicht so meine Freundin B., die sich ein paar Tage nach ihrem 41. Geburtstag das Leben nahm. Wir waren noch mal rausgefahren zu einem Spaziergang, nur sie wusste von dem „Noch mal“. Das Wetter: viel deprimierender als zurzeit, noch deprimierender. Nirgends war ein richtiger Wald, der uns mit mirakulöser Energie hätte durchströmen können. Der Wald war ein dummer Forst gewesen, nah an der Straße, mich plagte Kopfweh. Danach gingen wir noch Gans mit Rotkohl bei Rewe essen. Ziemlich trocken war die Gans, B. hatte sich Sauce nachgeholt, am Auto noch eine Zigarette geraucht, nervös von einem Bein aufs andere tretend, zurück in die Stadt.
Zur Beerdigung konnte ich nicht gehen, es ging nicht. Im letzten Sommer – jetzt kommt der lustige Teil – suchte ich, dirigiert per Whatsapp von ihrer erwachsenen Tochter, das Grab, bog immer wieder von Neuem vor der Kapelle links ab. Was stimmte nicht? Es stellte sich heraus, ich suchte auf dem falschen Friedhof. Es war so typisch für mich! Die Tochter und ich waren uns einig, dass B. das lustig gefunden hätte, weil mir so etwas immer passiert.
F. hat um diese Zeit vor einigen Jahren ihren Bruder verloren. Er starb an Krebs, und alle waren bei ihm, die letzten Tage im Krankenhaus, die erste und die zweite Frau, die Mutter, die Kinder und F. Meine Freundin F. ist die einzige Person, die mir von ihren vielen Reisen en detail erzählen darf, einfach weil sie erzählen kann. Ratten auf dem Zwischendeck in dieser Hütte in Thailand, ich konnte das Gescharre der Ratten sehr gut hören und schüttelte mich vor Lachen und Ekel. Einmal, als man sich wieder am Krankenbett versammelt hatte, unter Hochsicherheits-Voraussetzungen, ich glaube, man musste so etwas Ähnliches wie Raumfahrtanzüge tragen, dann durch eine Schleuse, weil sein Immunsystem nicht noch mehr geschwächt werden durfte, wurde hysterisch gelacht, erzählte mir F. Hysterisch, weil irgendwie der Druck raus musste. Zu lachen, erzählte sie, war befreiend gewesen, hysterisch zu lachen war schön gewesen, weil niemand sich schlecht dabei fühlen musste.
Eine große Liebe warf vor sehr langer Zeit einen Fön in die Badewanne, so ein Blödmann. Es hieß, er sei unglücklich in eine Frau verliebt gewesen. Aber wer kann schon einen Suizid erklären. Der Zeitpunkt seines Freitods war ziemlich genau mit dem Umstand zusammengekommen, dass ich endlich seine Festnetznummer vergessen hatte, Handy hatte man noch nicht. Ich war jung, es war mirakulös, ich war also über ihn hinweg?! Sontag würde hier nicht von einem Wunder sprechen, weil man letztlich alles immer in einer Kette von Ereignissen rational erklären kann, sie würde es eine Epiphanie nennen.
Zurück in der Heimat suchte ich einmal nach seinem Grab und fand es. Die Sonne schien warm in mein Herz. Mit einem Mal wurde ich von Orgelmusik aufgeschreckt, ein Feiertag! Vielleicht „berührten sich Himmel und Erde“, wie es in einem schönen Kirchenlied heißt, wo „Menschen neu beginnen“.
Kommentare 9
Ich arbeite in der Krankenpflege, als Springer. Heute hier, morgen da, gesteuert von Anrufen, die sagen, wo jemand fehlt. Der Tod ist zwar gelegentlicher, aber doch fester Bestandteil der Arbeit. Als Springer hat man den Vorteil nur kurz auf einer Station zu sein, 3 Tage in Reihe ist schon viel. Aber man ist – je nach Krankenstand – immer wieder mal dort, trifft einige Patienten nach Wochen wieder, die da immer noch oder wieder liegen oder man sieht sie auf anderen Stationen, oder in anderen Häusern. Mich hat die Welt der Kranken immer fasziniert (der Sprung in die Pflege war jedoch reiner Zufall oder Karma), eine Anderswelt mit eigenen Regeln und Gesetzen, raus aus dem Wahnsinn, der sich „normales Leben“ nennt. Wahrscheinlich hat Thomas Mann diese Stimmung unüberbietbar eingefangen, im Zauberberg.
Die Mischung der Reize, mit denen man sich normalerweise nicht konfrontiert, wie Leid, Angst, Blut, Schmerz, Exkremente, Stress und Tod, kriegt man durch eine eigene Haltung professioneller Distanz ganz gut in den Griff, die sich nirgend besser manifestiert, als in der „Übergabe“, die eine Schicht kommt, die andere geht, ein Krankenhausritual und gesellschaftliches Kleinod, in dem Humor und Tragik, verbale Härte und rührende Sorge, Informationen und Lästereien zu einem Amalgam verschmolzen sind. Der Tod der anderen wird in einer Situation der konstanten Überforderung zu einem nächsten Schritt dessen, was zu tun ist. Arzt anrufen, Scheuer/Wisch anrufen (die Putzfrauen), Schlüssel für die Kühlkammer holen, Leiche runter fahren, Aufkleber nicht vergessen, Leiche rüberwuchten, auf die Totenbahre, so dass eine Restwürde erhalten bleibt, unterschreiben, Tschüss, Schlüssel wieder abgeben, Bett wieder ins Zimmer bringen.
In der Onkologie oder auf den Palliativstationen bekommt man den Tod dann in Zeitlupe mit. Er hat viele Gesichter. Vieles ist sehr viel besser geworden. Was man manchmal mitnimmt, ist der frühe Tod. Die junge, hübsche Russin mit dem Magen-Ca(rcinom). Eine 16-Jährige, dunkler Hauttyp, metastasiertes malignes Melanom (die fiese Variante des Hautkrebses). Oder wenn man die Leute eben doch öfter sieht und eine Beziehung zu ihnen aufbaut, weil sie nett sind. Weil sie, selbst Arzt, wissen, dass sie sterben, ihren Krankheitsverlauf samt Prognostik besser kennen, als ich, wenn sie erzählen, was sie gerne noch erlebt hätten, wenn es so normal und nachvollziehbar ist, wenn man es ihnen von Herzen gegönnt hätte, wenn jeder Versuch zu trösten sich falsch anfühlt. Und ja, wie Kübler-Ross es schreibt, manche entwickeln eine ungeahnte Präsenz, für sie gibt es nur noch den Moment, diesen Tag, weil die nächsten 6 Monate für sie nicht mehr stattfinden. Ein eigenartig entspannte Situation, für die man 20 Jahre Zen machen muss.
Einmal bekam ich genau diesen Moment, diesen Kipppunkt mit, auf einer „Seuchenstation“. Den Patienten hatte ich dort schon öfter gesehen. Eben noch wurde über die Möglichkeit einer finalen Chemotherapie diskutiert, wenn ich mich richtig erinnere, mit der Zustimmung des Patienten, dann lief eine Fernsehwerbung, irgendwas mit grünen Bohnen. Der Patient sah fasziniert zu, dann sagte er, fast verklärt: „Ja, grüne Bohnen, das war was.“ War! Er war fertig mit dem Leben, es hatte nicht mal sonderlich Trauriges, dieser jähe Wechsel in die Retrospektive.
Noch was hat mich der Tod im Krankenhaus gelehrt. Man kann ihm nicht entkommen. Das lässt all die Mythen und Rituale des gesunden Lebens: Sport, Vollwertkost (un na 18 Uhr ess isch keine Kohlenhydrate mehr), regelmäßige Vorsorge immer wieder als Illusion zerplatzen. Statistisch sinnvoll, sicher, aber der Tod hat offenbar beim Statistikseminar nicht gut aufgepasst. Die Menge derer, die alles richtig gemacht, aber früh verstorben, ist jedenfalls existent. Vielleicht wechselt man darob den Beruf oder fängt an zu prassen (ist doch eh egal), mich hat es entspannt, die Angst vorm Tod ist auf ein Maß geschrumpft, das ich bei allen theoretischen Klimmzügen vorher nie erreichte. Um fair zu sein, war es vielleicht auch einfach ein weiterer Schritt, in einer ganzen Reihe, wie auch immer. Eigenartig faszinierend finde ich den Tod und das Morbide immer noch. Mir hat Ihr Artikel gefallen.
@katharina schmitz
@Moorleiche
Mit Gewinn gelesen - Danke!
Da schließe ich mich gern an.
Was würden die Kranken wohl sagen, wenn sie wüssten, dass ihr Pfleger sich im Netz "Moorleiche" nennt?
@pleifel
Tststs ... Was man halt so sagen kann: von allem bis noch was - wie gehabt.
Und die Toten? Die lachen, weil sie sich nicht vergessen wissen ...
@ kmv und @ Magda:
Gern, und für meine Portion Lob bedanke ich mich.
Immerhin bin ich kein Serienmörder, das ist doch auch schon mal was. Ich mag den Namen Moorleiche, irgendwie ist der Sound schön, hat auch was Beruhigendes, er bezieht sich zudem auf das Teufelsmoor, eine schöne Gegend. Die Patienten würde es eher nicht stören, außerdem bin ich sehr nett zu ihnen, weil ich ihre Ängste gut nachvollziehen kann. Das ist ein Vorteil des Springerlebens, man kommt nicht so leicht in den Clinch, einerseits bezogen das Gehacke auf den Stationen, aber auch nicht mit schrägen Patienten, die mir aber ohnehin oft die lieberen sind. Aber das ist ein anderes Thema.
Dein kommentar würde auch gut passen unter den beitrag:
"alte,starke medizin" über die stoa.
von einem redakteur des "philosophie-magazins".
schon zweimal gestartet, ohne redaktionelle empfehlung.
hier in diesem un-übersichtlichen theater....
Danke, für den Hinweis, habe ich gerade gelesen und das ist ein unzeitgemäßes Programm. Heute muss ja alles sozial verändert werden, zudem hat sich ein Schubladendenken etabliert, das assoziativ vorgeht.
Der Tod ist immerhin gerecht, er kommt zu jedem.
Berührend---