Unsterbliche Geschichten sind natürlich die, die über eine unglückliche Liebe erzählen. Liebe scheitert, bleibt unerwidert, darf nicht sein und irgendwo in diesem uralten Drama finden wir uns wieder. Ohne die Sehnsucht nach der Liebe gäbe es keine Kunst, wären wir ohne Literatur. Im Film zeigte zuletzt Tom Ford das Unglück der Liebe als einen fortwährenden unterdrückten Schrei, als ein beherrschtes Ersticken an der Trauer. Wer Colin Firth in Single Men gesehen hat, zweifelt keinen Augenblick, dass einer lieber sterben will, als ohne den Geliebten zu sein. Ohne ihn ist das Leben nur ein Aufstehen, an einen Ort gehen und ein schmerzhafter Traum vom Vergangenen. Davon erzählt der Roman Zur falschen Zeit des Schweizer Autors Alain Claude Sulzer; ein kleines, elegantes Meisterwerk.
Auch wenn die Homosexualität in der Schweiz seit 1942 nicht mehr strafbar ist, ist der einzelne schon genügend bestraft, denn jede Menge Sanktionen für Außenseiter gibt es Anfang der fünfziger Jahre auch so. Emil fürchtet dieses Leben. Einige Male hat er sich in ärztliche Behandlung begeben und – auch um seiner Eltern willen – auf „Heilung“ gehofft. Verwirrte Postkarten schreibt er aus dem Sanatorium an sein Coming-out André, die Verabreichung von Psychopharmaka ist üblich. Emil flüchtet in eine Heirat mit Veronika und ist doch in Liebe zu Sebastian verfallen. Zuerst ist die Heimlichkeit dieser Beziehung nicht ohne Reiz, Sebastian überrascht seinen Geliebten sogar im Urlaub, es sind ein paar Tage riskanter Leidenschaft. Bald aber überwiegt die Erbärmlichkeit im Alltag, die Niedertracht, die in jedem Hintergehen liegt. Zwei Wochen nach der Geburt seines Sohnes begehen die beiden Selbstmord.
Die Omega „Seamaster“
Unser Kind ist schwierig, sagen Eltern oft, wenn das Kind erwachsen wird. Rebellisch ist man, aufgewühlt, ziellos auf dem Sprung und oft auch ohne Worte. Dass diese Zeit eine magische Seite hat, wird erst nachträglich, in der Erinnerung bewusst. Wer auf der Suche nach sich selbst ist, fängt bei den Wurzeln an. So auch Emils Sohn. Eigentlich weiß er nichts über seinen Vater bis auf den unerklärten Selbstmord, die Mutter hat ihm nie etwas erzählt. Luzider Augenblick, als er zum ersten Mal das Portrait des Vaters wirklich wahrnimmt. „Ich spürte den Verlust eines Menschen, dem ich nie begegnet war. Vielleicht hatte ich siebzehn Jahre alt werden müssen, um darauf zu stoßen, mit sechzehn hätte ich es nicht sehen können, mit achtzehn wäre ich womöglich schon wieder blind dafür gewesen.“
Sorgsam untersucht der Ich-Erzähler jedes Detail der Fotografie, das Gesicht des Vaters, Licht und Schatten, die Uhr am Handgelenk. Er findet heraus, dass die Aufnahme in Paris entstanden ist, dort wo sein Patenonkel André lebt. Er sei ein alter Schulfreund seines Vaters gewesen, hat ihm die Mutter gesagt, dorthin reist er auch um die Omega „Seamaster“ zu holen. „Gegen elf Uhr morgens besorgte ich mir in einem Tabakgeschäft einen Plan de Paris, ein auberginefarbenes Taschenbuch, das nach den Nummern der einzelnen Arrondissements angeordnet war, zu denen es jeweils eine Karte und ein Straßenverzeichnis gab.“ Da zieht einer mit seinem unpraktischen Seesack los, einer, der noch keinen durchdigitalisierten Erfahrungshorizont hat. So gerät der Trip nach Paris für den schüchternen Jungen zu einem Abenteuer samt erster Zigarette schon vor dem Frühstück, ihre Wirkung ist so intensiv, dass er sich an eine Hauswand lehnen muss.
Schmerz und Schönheit
Die Dinge haben ein Eigenleben, manchmal können sie sogar ihren Besitzer herbeizaubern. Wie die alte Omega: „Ich hielt das Lederband an meine Nase. Und tatsächlich glaubte ich für einige Sekundenbruchteile ein unbekanntes Parfum zu riechen. War es das alte Leder, oder war es Politur, die ins Innere von Andres Schublade gedrungen war, oder Rauch, der in seinem Zimmer gegangen hatte? Als hätte ich den Geruch, der sich über Jahrzehnte konzentriert hatte, mit einem Atemzug aufgenommen, verflüchtigte er sich augenblicklich. Er war verlockend auf mich zugekommen und dann verschwunden. Für einen Augenblick hatte ich meinen Vater gerochen.“
Sulzers behutsames Erzählen scheint aus der Zeit gefallen und ist doch kein steriles Kunstprodukt. Wenn nicht alles täuscht, dürfte dieser Stil nicht wenigen Lesern gefallen: Literatur als Erholung vom grassierenden Seelenexhibitionismus. An dessen Stelle setzt Sulzer leise, sanfte Töne, und vor allem: Taktgefühl. Sulzer beschwört die Poesie der Diskretion und verwebt sie mit Erlebnissen, die nie verarbeitet wurden; Spießbürgertum und Schweigen. Die Erzählung, die zwischen den fünfziger, siebziger und kurz in die neunziger Jahre springt, klingt nostalgisch, ist es aber nicht. Es ist eine Zeit, in der viele nicht sie selbst sein durften, falsch waren. Dass dieser Zeit dennoch eine Schönheit entwächst, ein Stil, das hat schon Tom Fords Film gezeigt. Hier wie dort gründet dieser Stil auf dem Schmerz, in Zur falschen Zeit ist es der Schmerz des Sohnes, der ein ungewünschtes Kind war, natürlich der Schmerz von Emil, nicht zuletzt aber die tiefe Verletztheit der Mutter, auch sie wurde um ein Leben betrogen.
Zur falschen ZeitAlain Claude Sulzer Galiani, Berlin 2010, 230 Seiten, 18,95
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