Ist das wirklich das neue Berlin?

Reportage Katja Kullmann besucht in "Rasende Ruinen" das gebeutelte Detroit und trifft auf zupackende Menschen

Man kennt diese Ruinen-Pin-Ups, so endzeitlich, so schlimm schön. Ohne anrüchige Romantik ist Detroit aber einfach eine amerikanische Stadt auf brutalem Dritte-Welt-Niveau. „This place is hot!“ heißt es derzeit allen Negativsuperlativen zum Trotz in der kreativen Klasse, und es riecht streng nach Gentrifizierung. Da wurde Katja Kullmann hellhörig. Die Journalistin gehört zu den ernüchterten Pionieren der Nullerjahre; in Echtleben verarbeitete sie ihren schmerzhaften Spagat zwischen Selbstverwirklichung und -ausbeutung, der bis heute nicht weniger weh tut – die neoliberale Zeit ist ja nicht vorbei. Nun hat Katja Kullmann sich Detroit vorgenommen; eine Stadt, die das Zeug zum Berlin der USA habe, eine Stadt, die „sich neu erfindet“, wie es im Untertitel zu Kullmanns Reportage Rasende Ruinen heißt.

„Bitte keine Ruinenpornos mehr“, sagt Plattenladenbesitzer Brad Hales. Er meint jene Ehrfürchtigen, die kurz anreisen, um sich von einem ruin guide an die Hand nehmen zu lassen. Katja Kullmann ist für vier Wochen gekommen. Sie hat sich einen unverfänglichen Hoody gekauft; Detroit ist eine der gefährlichsten Städte der USA, also bloß keinen Ärger provozieren. Jetzt fährt sie über gespenstisch leere Highways – in einem vielsagenden Hyundai, früher, ja früher, haben die Menschen mit der Produktion von einheimischen Autos „ganz unironisch ihr Geld verdient“.

Auf ihrem Trip trifft Kullmann alle möglichen Leute: die fünffache schwarze Mutter, die kurz bevor sie das Haus räumen muss, noch einen befristeten Callcenterjob ergattert und sich wahnsinnig freut, weil es erstmal weiter geht; oder die Charity-Lady aus dem Mittelklasse-Suburb, die zupackt und schaut, was geht, zum Beispiel, um Frauen wie Charnell vor der Obdachlosigkeit zu bewahren. Grotesk. In dieser Stadt, in der massenhaft Häuser leer stehen, kann jeder auf der Straße landen.

Zynismus der Hipster

„Shit, ich bin zu Hause“, denkt Katja Kullmann, als sie den kreativen Hipstern dann doch begegnet. Es ist ein kleines Areal mitten in Detroit, auf einem Konzert im Contemporary Museum of Detroit (früher eine Autohandlung), ist die Bassistin die einzige Schwarze. Alle anderen erscheinen ihr wie Berliner Wiedergänger, die zum Beispiel vegane Pizza backen. Eine Designern produziert Mäntel für Obdachlose, die auch als Schlafsack funktionieren; das ist bestimmt arglos gedacht, wirkt aber zynisch, denn die weißen Kreativen wohnen nicht etwa in Downtown, sondern lieber schön harmlos in den sicheren Suburbs.

Stadtplaner Robin Boyle hat die Kiezstruktur in Berlin zum Vorbild genommen. Er hat kein Problem damit, manche Stadtteile endgültig der Verödung preiszugeben. Verkehrte Welt, denkt man. Die Brachflächen gibt es eben nur zu diesem Preis: Detroit steht am Abgrund, für Rettungsversuche müssen Widersprüche in Kauf genommen und Großinvestoren freundlich empfangen werden. Der „Gentrifzierung“ begegnet Kullmann kein einziges Mal, man freut sich über die dritte neue Starbucksfiliale – vielleicht kommt die Mittelklasse ja wirklich zurück. Den Mittellosen bleibe bis dahin nur die Solidarität. In Detroit ist eine Selbstversorgerszene entstanden, die nicht bloß ein paar Tomaten auf dem Dach anbaut, die freien Farmen produzieren jährlich etwa 170 Tonnen Gemüse.

Wem immer Kullmann begegnet, sie trifft auf ein Stück amerikanische Mentalität: auf eine lakonische, pragmatische, kreative Unerschütterlichkeit. Daraus ließe sich lernen in Berlin, wo man sich gegenseitig der Gentrifizierung bezichtigt und sich verstrickt: Man zeigt Empathie für Türken in Neukölln, die ihre Mieten nicht mehr zahlen können, und grollt gleichzeitig dem Geschäftstüchtigen mit der türkischen Fastfood-Kette in Kreuzberg. Dabei könnte man doch wie in Detroit nachdenken „über sozial durchlässige Bebauungspläne, die Gründung eigener Genossenschaften oder andere konkrete (lokal)politische Eingriffsmöglichkeiten“. Ist Solidarität also wirklich „the new sexy“, wie Kullmann sagt? Auch wer von diesem Slogan nicht gerade angefixt ist, zweifelt beim Lesen nicht, dass die Reise enorm inspirierend gewesen sein muss.


Rasende Ruinen. Wie Detroit sich neu erfindetKatja Kullmann edition suhrkamp digital 2012, 90 S., 5,99

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