„Kunst heilt“

Interview Ulrike Stöhring malt therapeutisch mit Kindern und kennt die Kraft der Kreativität. Ihr selbst half sie auch, eine Trennung zu überwinden
Ausgabe 15/2020
Nupsis, Pümpel, Penökel? Wie heißen die Dinger? Virus-Auswüchse zu zeichnen macht jedenfalls Spaß
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FOTO: MARCO BERTORELLO/AFP/GETTY IMAGES

Jetzt, da im Moment alle Kunst- und Kulturstätten geschlossen sind, haben wir die Kunsttherapeutin Ulrike Stöhring gefragt, welche Möglichkeiten im therapeutischen Malen liegen. „Das Tun ist der Schlüssel“, sagt sie, selbst wenn nichts Aufhebenswertes dabei herumkommt.

der Freitag: Frau Stöhring, Sie arbeiten als Kunsttherapeutin mit Kindern, was machen die denn jetzt ohne Sie?

Urlike Stöhring: Sie sind, wie alle, mehr oder weniger gut aufgehoben zu Hause und wir haben fast keinen Kontakt. Das ist, nach 23 Jahren im Beruf, eine Erfahrung, auf die ich nicht eingestellt war und die mir zu schaffen macht. Unsere Arbeit ist durch Kontinuität und eine große Verlässlichkeit geprägt, die nun nicht wirklich einzuhalten ist, und das beunruhigt.

Die Bilder der Kinder sind für Sie Kunst, oder?

Ja, unbedingt. Aber das kann ein Zufallsprodukt sein – bei Kindern ist das oft so. Es gibt diese magische Phase, vor allem zwischen circa vier und sieben Jahren, wo die Kinder unzensiert und relativ unberührt von Belehrung malen. Das ist bei erwachsenen Künstlern zwar auch so, aber niemals so krass. Und so kommt es gar nicht so selten bei uns dazu, dass Bilder von großer Intensität, Tiefe und Schönheit entstehen. Ob das Kunst ist, ist vielleicht gar nicht die zentrale Frage, denn bei uns geht es zunächst um das Tun an sich, um den möglichst direkten Selbstausdruck, den Prozess. Das fertige Produkt ist nur das i-Tüpfelchen. Während erwachsene, professionelle KünstlerInnen nun noch die Sichtbarmachung des Werkes vor sich haben, gehen unsere Kinder glücklich hier raus und fragen nicht mehr so sehr nach ihrem Produkt. In unserem speziellen Rahmen ist das aber für mich Kunst, die mich berührt.

Haptik ist, glaube ich, ganz zentral in der Kunsttherapie und eine Möglichkeit der Heilung?

Ja, Malen, Zeichnen, Plastizieren – das alles ist stofflich, haptisch, fordert körperlich-sinnlich heraus. Verbale Fähigkeiten stehen nicht im Mittelpunkt oder der Leistungsgedanke, der schon das Leben von Vorschulkindern prägt. Viele Kinder möchten sich nicht „schmutzig“ machen. Das muss gar keine tieferen seelischen Ursachen haben. In einer Familie fehlt schlicht eine funktionierende Waschmaschine, in der anderen werden die Kids in teure Kleidung gesteckt, der dann im Alltagsverhalten gehuldigt werden muss. Ist das halbwegs geklärt, steht dem sinnlichen Erleben nicht mehr viel im Wege. Vor allem Ton, einer der ältesten Werkstoffe der Menschheit, ist so ein Stoff, der körperlich herausfordert. Das Kind kann matschen, spielen, aber auch figürliche Vorhaben entwickeln, die Geduld und Geschick erfordern. Das ist interessant in einer Welt, wo sich Fünfjährige mit ein paar Clicks perfekte Gestalten ausdrucken können ...

Ich habe Freunde, die gerade keine Lust haben, Kunst zu konsumieren. Manche Freunde haben Angst, in eine Depression abzurutschen. Wäre therapeutisches Malen eine Idee?

Durch Galerien zu ziehen und den „Betrieb“ zu erleben, dazu hätte ich momentan auch keine Lust. Aber dass die Gemäldegalerien geschlossen sind, betrübt mich doch sehr. Für mich ist es eine Kur, Kunst anzusehen, in Dialog zu treten, das eigene „Süppchen“ in Relation zu setzen. Kunstmuseen sind Heilstätten. Zu malen, ob therapeutisch oder nicht, ist immer eine gute Idee. Es ist aber einfacher, es aus therapeutischer Intention zu tun, weil der innere Kritiker nicht so stark ist. Mir ist in einer Gruppentherapie einmal 40-jähriger Mann begegnet, ein Betriebsdirektor. Er malte unsicher und zunächst sehr unwillig. Die Bilder waren der Hammer! Alles, was er in seiner tiefen Depression absolut nicht sagen oder anderweitig ausdrücken konnte, kam ans Licht. Aber selbst wenn nichts Aufhebenswertes beim Malen herauskommt: Das Tun ist der Schlüssel. Man bewegt sich.

Können Sie sich umgekehrt vorstellen, dass bildende Künstler keine Lust mehr haben, Kunst zu machen?

Das gibt es immer mal wieder, schließlich ist auch das ein Beruf; aber ich kann mir die Pandemie als Grund nicht vorstellen. Höchstens als Anlass.

Sie schrieben ein Buch darüber, wie Sie eine Trennung „glücklich überlebten“. Welche Rolle spielte die Kunst?

Literatur, Musik und Kunst haben mich gerettet. Neben meinen Freunden, Kindern und der sonstigen Familie natürlich. Nach einer Phase der Schockstarre, wo gar nichts ging und mich eine komplett interesselose Leere umfing, war mir das ein ganz großer Trost. Wie schon gesagt: Stätten der Künste sind Heilstätten. Sie setzen persönlichen, sehr privaten Schmerz in eine gewisse Relation. Es ist Platz für das Eigene, aber die Welt ist auch da.

Zur Person

Ulrike Stöhring, geboren 1962, studierte Kultur- und Kunstwissenschaften. Sie leitet ein kunsttherapeutisches Kinderatelier in Berlin. 2018 erschien von ihr Vielen Dank für alles: Trennung – glücklich überlebt (Ullstein)

Gibt es etwas, was das Schreiben bewirken kann, was Malen oder Formen nicht können?

Die Kunsttherapie oder das bildnerische Gestalten ist nur einer meiner Berufe. Ich bin auch Autorin. Und in der Tat war es so, dass mir nach dem ersten Schock der Trennung klar war, dass es ein Buch werden muss. Ich fand zwar Trost und Entspannung beim Malen und in Museen, aber ich fand fast keine Bücher, die ich in den kurzen Nächten, die sich wie ein Säurebad anfühlten, lesen konnte. Für Belletristik hatte ich zu wenig Kraft und unter den Sachbüchern waren wenige, die auf meine Lebenssituation, mein Alter und auch auf meine spirituellen und intellektuellen Bedürfnisse passten. Am ehesten noch Autorinnen wie Eva Illouz oder Clarissa Pinkola-Estès. Mein Buch wurde ein erzählendes Sachbuch, das Interviews mit Betroffenen, aber auch Fachleuten genauso beinhaltet wie meine persönliche Sicht auf die Geschichte. Der Bruch, die Verletzung, braucht auch verbale Verarbeitung. Auch in der Kunsttherapie ist das ein Teil des Prozesses, sei es, dass „über Bande“ gesprochen wird. Also zunächst über das, was bildnerisch sichtbar gemacht wurde und nun – auch mündlich – geteilt werden will.

Ist eigentlich vorstellbar, dass auch professionelle Künstler eine Kunsttherapie benötigen? Oder ist ihre Arbeit immer auch Therapie?

Gute Frage! Ich kenne keine, die eine Kunsttherapie gemacht hätten. Wobei diese ja meist in Verbindung mit anderen Formen praktiziert wird. Auch bei uns in der Einrichtung sprechen wir ausdrücklich von „therapiebegleitendem Malen“, denn die Konflikte, auch bei Kindern, sind ja sehr komplex, und ich bin keine approbierte Psychologin. Ich weiß von Freunden und Kollegen, die im Zuge einer psychischen Erkrankung Klinikaufenthalte absolvieren und die Kunsttherapie, die meist im Rahmen der Ergotherapie angeboten wird, sehr hilfreich finden. SchriftstellerInnen. MusikerInnen. Bildende KünstlerInnen eher nicht.

Kann man sich in einer Kunsttherapie auch so in die Kunst verlieben, dass man daraus einen Beruf machen will?

Ich kenne viele Fälle, wo Menschen nach schweren Krisen oder auch körperlichen Erkrankungen einen neuen, oder überhaupt einen Zugang zu ihrer Kreativität gefunden haben. Und die das dann auch betreiben, dranbleiben, vielleicht nicht mehr so viel ins Büro rennen.

Wenn ich es recht sehe, geht die Kunsttherapie immer von der Trauer aus ... was ist mit dem Glück, der Freude?

Kunsttherapie geht, wie eigentlich jede Therapieform, von dem aus, was ist. Meist ist es eine Art von Verkantung im Leben. Oder ein Zwang, ein Beziehungsproblem, eine unbeherrschbare Aggression – es ist eine lange Liste. Bis wir in der Arbeit bei der Trauer angekommen sind, ist schon ein gutes Stück geschafft. Davor liegen Abwehr, Wut, Süchte, Rosenkriege. Alle verlieren bei Rosenkriegen. Und irgendwann, wenn es gut läuft, darf man die Trauer über Verluste oder nie Bekommenes spüren. Die Trauer ist oft auch ein Heilungsschmerz. Wir sollten ihr Zeit lassen. Das Glück sind ja eher Momente. Es kann sich als Gefühl einstellen, als Möglichkeit. Viele traumatisierte Menschen kennen weder wirkliche Trauer noch echte Glücksgefühle. In dieser Phase ist auch der bildnerische Ausdruck eher flach, belanglos. Bei echter Trauer nicht.

Noch so eine Frage: Wann ist man in der Kunsttherapie eigentlich therapiert?

Keine Ahnung. Ist ja schließlich keine Zahnsanierung. Das Leben schleppt uns doch täglich neue Aufgaben ran. Jetzt zum Beispiel in der Corona-Krise müssen wir mit einem nie gekannten Gefühl von Ungewissheit umgehen. Alte und neue Ängste kommen hoch. Ich fühle mich alle halbe Stunde anders. Aber auf bestimmte Ressourcen zurückgreifen zu können, hilft sehr. Ich habe zum Beispiel im Verlauf von Therapien gelernt, bei Einsamkeitsgefühlen nicht mehr – wie als Kind – in helle Panik zu verfallen. Das ist gerade jetzt sehr hilfreich.

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Geschrieben von

Katharina Schmitz

Redakteurin Kultur

Katharina Schmitz

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