Leuchtender Schmerz

Banlieue In Cloé Mehdis „Nichts ist verloren“ arbeitet ein Tod sich durch Zeiten und Menschen hindurch
Ausgabe 45/2018

In Frankreich kursiert seit Ende Oktober der Hashtag #PasDeVague. An einer Schule in einer typisch französischen Banlieue, nicht wichtig, wo, hatte ein 16-jähriger Gymnasiast eine brutal echt aussehende Waffe an den Kopf seiner Lehrerin gehalten. Die Szene wurde gefilmt, ging viral, es war die Initialzündung für den Hashtag. Lehrer aus dem ganzen Land twitterten unter #PasDeVague von ihrem Alltag. Es sind erschreckende Tweets. Da ist die Lehrerin, der man ein „Hure“ an den Kopf wirft. Berichtet wird von Morddrohungen, von tatsächlichen Übergriffen. Und wie in Deutschland, liest man, werden überwiegend Berufs- und Quereinsteiger an die Problemschulen geschickt, überall fehlen Sozialarbeiter.

Warum der Name „pas de vague“ für „kein großes Aufheben machen“? Weil solche Vorfälle von Schulleitungen und Politik in der Regel heruntergespielt werden. Viele schreiben, der Hashtag richte sich nicht gegen die Schüler, sondern gegen eine Regierung, deren schwache Idee jetzt ist, die Polizeipräsenz an Schulen zu verstärken. Betont wird auch, dass die Gewalt an Schulen statistisch gesehen eigentlich abgenommen hat. Berichtet wird auch von Suiziden. Lehrer bringen sich um. Ungefähr hier, in einem sozial prekären Stadtteil namens Verrières (dessen Aufwertung und die Verdrängung der Bewohner die Leser mitverfolgen), ist der zweite Roman der französisch-algerischen Schriftstellerin Cloé Mehdi angesiedelt. Für Nichts ist verloren, der 2016 in Frankreich erschien, wurde Mehdi vielfach ausgezeichnet.

Erzählt wird vor allem aus der Sicht des elfjährigen Mattia, sein Vater, ein ehemaliger Sozialpädagoge, hat sich vor ein paar Jahren erhängt, nachdem sein Schützling Said von einem Polizisten getötet worden war. Der Polizist kam straffrei davon. Es kam zu Unruhen im Viertel. „Da kommt er also mit zwanzig von der Berufsfachschule, freut sich über seinen Abschluss und bewirbt sich ausgerechnet dort, wo niemand hin möchte. Zu dem Zeitpunkt ist er noch voller Optimismus und überzeugt, etwas zu verändern. Er kann eine Woche nicht schlafen, wenn einer von den Jungs in den Knast wandert, kurzum, er macht seinen Job mit Leidenschaft“, sagt Gina, Mattias Schwester über den Vater. Der Vater habe versucht, das alles zu „rekompensieren“, erklärt die Psychiaterin Nouria dem Kind. Die Mutter ist seit dem Suizid unfähig, sich um die Kinder zu kümmern. Seit ein paar Wochen meldet sie sich gar nicht mehr. Mattia lebt bei „Zé“, der sich mit seinem Vater ein Zimmer in der Psychiatrie teilte, bis der sich erhängte. Zé, Sohn eines Strafanwalts und aus „stinkreichem“ Hause, ist aber mitnichten der ideale Vormund. Hat er seine Mitschülerin damals aus dem Fenster geschubst oder sprang sie selbst? Zé arbeitet als Nachtwächter, liest Verlaine, Rimbaud und Camus und ist vor allem damit beschäftigt, seine zum Selbstmord entschlossene Freundin Gabrielle vor der Tat zu hindern. Er rekompensiert auf seine Weise. Zum Glück hat Mattia eine verständnisvolle Lehrerin und wird von der besonnenen Nouria betreut, die dieses unerträglich dysfunktionale Zuhause trotz allem als das derzeit Beste für das Kind einschätzt. Glück kann ja auch sein, wenn Zé dir einen Tennisball in den Pyjama näht, damit „das Ding“ nicht mehr in deine Träume dringt. Und ganz oben auf dem Kran ist der Blick über Verrières doch irgendwie schön, wenn deine Schwester Gina neben dir sitzt.

Das Vergnügen der Lakonie

Sein Schicksal kommentiert Mattia mit berührender Lakonie. Cloé Mehdi gelingt es, eine echte Stimme für dieses Kind zu finden, was nicht einfach ist, ohne dass es schief klingt, und sicher am Alter der 1992 geborenen Autorin liegt, freilich auch an der street credibility der Franko-Algerierin. Die Lakonie macht diesen Roman zu einem großen Vergnügen – abgesehen von der Spannung, die sich bald entfaltet. Denn die Frage ist schon, warum da plötzlich zwei Typen vor der Schule auftauchen und nach seiner Schwester fragen. Warum sieht man plötzlich Jahre nach dem Mord diese Graffiti „Gerechtigkeit für Said“? Wieso erscheint eines Tages der Polizist im Türrahmen und diskutiert mit Gabrielle? Mattia ist stets der Letzte, der etwas erfährt, auch das stellt er mit Gleichmut fest.

Mehdi hat einen „Banlieue-Roman“ geschrieben, der fast ohne plakative Graffiti über Jugendkriminalität, Rassismus, Gewalt und Gegengewalt auskommt. Man muss sich zusammenreimen, dass Mattias Vater einen sogenannten Migrationshintergrund hatte, die Mutter Biofranzösin ist. Das Kind trägt ihren Namen, die Gründe dafür kann man sich einfach denken.

Die Sehnsucht nach Sinn und Gerechtigkeit lässt alle Figuren Grenzen überschreiten. Manches leuchtet schmerzvoll und sofort ein, vielleicht sogar diese eine Tat vor dem Hintergrund der eingangs geschilderten Lage in den Banlieues. Die einen bringt der Idealismus um. Zé, der „Lyrikliebhaber“, wie Mattia den Vormund nennt, kommt am Ende vielleicht los von seinem Zwang, wenn er lernt loszulassen. Mattia hat all das zwangsläufig verinnerlicht, um ihn muss man sich keine Sorgen machen.

Info

Nichts ist verloren Cloé Mehdi Cornelia Wend (Übers.), Polar Verlag 2018, 330 S., 18,50 €

Bilder des Spezials

Ben Zank wurde 1991 geboren, er lebt in New York City. Mit 18 entdeckte er die Fotografie, als er auf dem Dachboden seiner Großmutter eine Pentax ME Super fand. Eigentlich ist er Journalist, aber oft findet er mit der Fotografie besser zu seiner Sprache. Anzüge, das sind kühle Bilder voll monochromatischer Spannung, die ein diffuses Gefühl von Intrigen, Verlassensein und Ereignis hervorrufen. Die Figuren sind gesichtslos, anonym, ihre Aktionen choreografiert und undurchsichtig. Zank ist inspiriert vom Surrealismus René Magrittes, er verwendet die Symbole der Epoche – einen Hut mit breiter Krempe oder ein Fahrrad. Zu sehen ist eine Noir-Traumlandschaft, die Fragen nach der Art der eingesetzten Symbole aufwirft: Sind sie eine Allegorie? Zank sagt: „Jedes Bild ist ein eigener kleiner Roman, den jeder auf seine Weise lesen kann.“ Mehr Information auf benzank.com

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Geschrieben von

Katharina Schmitz

Redakteurin Kultur

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