Mal kein Business as usual

Interview Die SPD-Mitglieder haben ihre Vorsitzenden gewählt. Darin, dass Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans Quereinsteiger sind, sieht Claire Funke vor allem eine Chance
„All das kostet viel Kraft.“
„All das kostet viel Kraft.“

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Claire Funke erreichte bundesweit Bekanntheit, als sie 2016 ihre Kinder in eine Pflegefamilie gab. Zwar nur für kurze Zeit, trotzdem möchte sie heute darauf nicht mehr angesprochen werden. Was sie jedoch noch dazu sagt ist, dass es eine Zeit der kompletten Überforderung war – und für sie eine Initialzündung. Denn für Claire Funke war es die Kehrtwende im Denken. Sie erkannte, ihre Situation, „das alles“ ist politisch – nicht ihr persönliches Versagen. Seither macht sie auf die Probleme von Alleinerziehenden aufmerksam, auf Menschen, die ihre Angehörigen pflegen oder im Hartz IV-System durchkommen müssen. Diesen Sommer reichte Funke eine Petition mit der Forderung ein, private Care-Arbeit zu entlohnen. Sie twittert auf „Mama streikt“.

Der Freitag: Frau Funke, Sie führen einen Blog, „Mama streikt“. Dort schreiben Sie über Ihr Leben als alleinerziehende Mutter. Wie geht es Ihnen zur Zeit?

Claire Funke: Nun ja, wie es eben einer alleinerziehenden, voll berufstätigen Mutter mit zwei Kindern so geht. Ich habe zwar nur einen Minijob, aber ich arbeite zusätzlich selbständig als „virtuelle Assistentin“ im Home Office. Damit es reicht. Und natürlich, damit wir uns etwas leisten können. Im Grunde arbeite ich also Vollzeit. Gesundheitlich war 2019 kein gutes Jahr. All das kostet viel Kraft.

Die neue SPD-Vorsitzende Saskia Esken war alleinerziehende Mutter. Sie hat drei Kinder. Kannten Sie sie?

Ehrlich gesagt: nein. Norbert Walter-Borjans war einem höchstens noch bekannt über seine Aktion mit den Steuer-CDs.

Gucken Sie eigentlich „Anne Will“? Haben Sie die Sendung vom Sonntag gesehen? Der Chefredakteur des Cicero, Christoph Schwennicke, sagte, die SPD-Basis habe ihren Untergang gewählt. Esken und Walter-Borjans hätten keine Führungserfahrung, seien nicht mit der Partei groß geworden. Wie finden Sie das?

Ich habe die Sendung nicht gesehen. Aber für mich ist das kein Kriterium. Ich sehe das eher als einen Vorteil, wenn Politiker von außen kommen. Leben bedeutet Veränderung. Nur so kann man eingefahrene Pfade verlassen, den Blickwinkel wechseln, statt immer nur zu schauen, wie viele Wählerstimmen gibt das, was sagt die Presse. Im Übrigen gibt es nicht nur in der großen Politik Organisationsformen. Die Keimzelle ist für mich die Familie, es geht über die Dörfer, in die Städte, von der Landesebene zur Bundesebene.

Es hieß, Saskia Esken hätte „nur“ Erfahrung aus einem Schul-Elternbeirat. Zeigt sich da auch die Arroganz gegenüber Leuten, deren Berufsbiografien nicht straight, sondern holprig sind?

Ja. Ich habe selbst lange Jahre in der Erwachsenenbildung gearbeitet. Hier haben Sie kurvige Erwerbsbiografien. Mein Weg war auch holprig, er ist es noch. Ich selbst war zehn Jahre nur befristet angestellt. Ich habe eine Ausbildung als Hotelfachfrau (mit Ausbildungsberechtigung), und zwei psychologische Weiterbildungen gemacht. Ich habe im sozialen Bereich gearbeitet, jedoch kein Studium, dass in der Erwachsenenbildung mittlerweile aber immer öfter vorausgesetzt wird. Das ist überhaupt der Trend, die Hochqualifizierung des Arbeitsmarkts. Selbst Bürojobs sind nicht leicht zu kriegen, wenn Sie „nur“ eine Ausbildung als Hotelfachfrau haben, wie ich. Der Arbeitsmarkt schließt Leute aus. Er exkludiert. Und die Betriebe zahlen lieber eine Schwerbehindertenausgleichsabgabe, als beeinträchtige Menschen oder Menschen mit Behinderung einzustellen.

Sind die „Quereinsteiger“ Esken und Walter-Borjans also eine Hoffnung?

Wir schauen hier in Deutschland jedenfalls zu sehr darauf, wer was gelernt oder studiert hat. Ich finde, ein Blick von außen ist immer gut. Politiker sind oft abgekoppelt von der Wirklichkeit, vom Arbeitsleben, den Bedingungen, unter denen viele Menschen leben und arbeiten. Auch dass beide Kinder haben, könnte erdend wirken.

Was ist für Sie gute Politik?

Eine, die alle Menschen anspricht. Eine soziale Politik, die alle Menschen mit einschließt. Wir denken zu stark in Normen, alles muss genormt sein. Auch die Menschen sollen Normen entsprechen. Wer da raus fällt, bekommt eine Diagnose und dann eine Therapie verordnet.

Saskia Esken ist über ihr Engagement in der Schule zur Politik gekommen. Könnte sie für neue Impulse in der Bildungspolitik sorgen?

Ich weiß nicht. Meiner Ansicht nach wird der Fokus ohnehin zu sehr auf die Bildung gerichtet. Aber nicht jede/r bringt die gleichen Fähigkeiten mit. Der Fokus müsste mehr auf die Bedürfnisse der Menschen gerichtet sein. Bildung sollte nur ein Teil davon sein. Überhaupt: Die zentralen Fragen des Zusammenlebens müssten anders gestellt werden. Weil es sich, siehe auch die Klimapolitik, eben auch um globale Fragen handelt. Ist die Politik nah an den Menschen? Eigentlich nicht mehr. Deshalb sollte insgesamt mehr Diversität in allen politischen Gremien herrschen. Da sollten Eltern sitzen, Alleinerziehende, Menschen, die ihre Angehörigen pflegen, Menschen mit Behinderung. Es fehlen wichtige Stimmen. Damit sich diese einbringen können, fehlen jedoch die Strukturen. Ich würde gerne per Skype an einer im Gemeinderatssitzung teilnehmen können, um mal ein Beispiel zu nennen.

Haben Sie sich schonmal überlegt, „in die Politik zu gehen“?

Ja, das habe ich. Wenn ich Veränderung will, muss ich etwas tun. Im Moment machen aber vor allem die Leute Politik, die abends Zeit haben. Das sind ja immer noch meist die Männer. Nach meiner Petition, die ich im Sommer eingereicht habe, war dieser Wunsch noch stärker. Aber meine Kinder sind 5 und 12, ich bin allein erziehend, da wird es schon stressig einen Babysitter zu organisieren, um drei Stunden in einer Gemeinderatssitzung zu verbringen. Also noch sind mir die Hände gebunden, solange die Kinder nicht älter und solange die Strukturen so sind.

Und wenn es bessere Strukturen gäbe?

Ja. Dann würde ich mehr streiten. Dass Männer jetzt weniger Unterhalt zahlen sollen, zum Beispiel wie Franziska Giffey es plant, wenn sie sich mehr um die Kinder kümmern, ist ungerecht. 90 Prozent der Kinder leben sowieso bei der Mutter. Und solange wir den Gender Pay Gap haben, können Mütter selten das gleiche Einkommen generieren wie ein Mann. Warum wird das auf dem Rücken der Alleinerziehenden ausgetragen? Man könnte doch auch die Väter steuerlich entlasten. Oder die private Care-Arbeit bezahlen, wie ich es in meiner Petition fordere. Das würde die Frauen nicht zurück an den Herd bringen, wie es oft von Seiten der Politiker heißt, es würde die Frauen unabhängiger machen. Meine derzeitige berufliche Situation macht mich schließlich auch alles andere als unabhängig. Oder: befristete Arbeitsverhältnisse. Unabhängig fühlt man sich da nicht.

Was muss geschehen? Werden Sie noch in die SPD eintreten?

Nun ich bin jetzt erstmal gespannt, aber natürlich auch skeptisch. Die SPD hat das Soziale „wegpolitisiert“. Die SPD kann sich nicht mehr sozial nennen. In den letzten Jahren konnte ich nur noch den Kopf schütteln. Ich gucke jetzt mal, was die zwei da machen.

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Geschrieben von

Katharina Schmitz

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Literatur“

Katharina Schmitz studierte Neuere Geschichte, Osteuropäische Geschichte, Politikwissenschaften, Vergleichende Literaturwissenschaften und kurz auch Germanistik und Romanistik in Bonn. Sie volontierte beim Kölner Drittsendeanbieter center tv und arbeitete hier für diverse TV-Politikformate. Es folgte ein Abstecher in die politische Kommunikation und in eine Berliner Unternehmensberatung als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Ab 2010 arbeitete sie als freie Autorin für Zeit Online, Brigitte, Berliner Zeitung und den Freitag. Ihre Kolumne „Die Helikoptermutter“ erschien bis 2019 monatlich beim Freitag. Seit 2017 ist sie hier feste Kulturredakteurin mit Schwerpunkt Literatur und Gesellschaft.

Katharina Schmitz

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