Medikamenten-Knappheit: „Kurios und beschämend für eine so hochindustrialisierte Nation“
Interview Apotheker Steffen Plauschin spricht über die Arzneimittelknappheit in Deutschland. Fehlender Fiebersaft sei dabei noch das eher kleinere Problem. Sorgen bereiten ihm vor allem die Lieferschwierigkeiten von 300 Standard-Medikamenten
Schmerzmittelsaft für Kinder ist derzeit nur schwer zu bekommen
Foto: Imago/Fotostand
Besuch in einer Apotheke in Brandenburg. Es ist viel los, so wie in den vergangenen Tagen. Die Nachfrage nach Erkältungsmitteln ist hoch. Seit ein paar Tagen schrumpft der Vorrat an Fiebersaft für Kinder, die Apotheken müssen rationieren. Noch dramatischer ist das massive Fehlen von verschreibungspflichtigen Medikamenten bundesweit, etwa von Krebsmitteln und Antibiotika, weshalb der Ärztekammer-Präsident Klaus Reinhardt jetzt sogar „Flohmärkte in der Nachbarschaft“ für Medikamente gefordert hat.
Steffen Plauschin kennt sich aus mit zwei „(Gesundheits-) Systemen“, seine Mutter war von Beruf Apothekerin in der DDR. Nach der Wende studierte er Pharmazie und wurde Apotheker wie seine Mutter. Wir fragen den Experten: Was sind die Ursache
n Beruf Apothekerin in der DDR. Nach der Wende studierte er Pharmazie und wurde Apotheker wie seine Mutter. Wir fragen den Experten: Was sind die Ursachen für den Medikamentenmangel und wie dramatisch ist die Lage?der Freitag: Herr Plauschin, in ganz Deutschland fehlt jetzt Fiebersaft für Kinder. Wie kann das sein?Steffen Plauschin: Wir müssen hier erstmal die Fiebersaftknappheit getrennt von dem massiven Fehlen von verschreibungspflichtigen Generika betrachten. Das eine hat mit dem anderen nicht so viel zu tun. Die Fiebermittelengpässe sind auch der Tatsache geschuldet, dass einer der größten Hersteller die Winterbevorratung abgesagt hat und on top: Kinder, die zwei Jahre lang Maske getragen haben, holen jetzt die üblichen Atemwegsinfektionen nach. Die Infektionszahlen explodieren. Mit einem so hohen Bedarf an Fiebermitteln hat wirklich niemand gerechnet.Wie kann man denn eine „Winterbevorratung“ einfach absagen? Erklären Sie das doch bitte dem Laien einmal.Welche unternehmerische Entscheidung in diesem Fall dahinter steckt, weiß ich natürlich nicht. Die machen das ja nicht aus Jux und Tollerei und vor allem, sie dürfen das, einfach mal so. Die Pharmaindustrie ist bekanntlich den Mechanismen und Gesetzen des kapitalistischen, oder, eleganter, des freien Marktes unterworfen. Und da sind wir wieder bei dem eigentlich viel schlimmeren Problem, nämlich der allgemeinen Arzneimittelknappheit. Um Kosten zu senken, wurde die Wirkstoffherstellung weg aus Europa nach Fernost verlagert, vor allem nach China und Indien, was sich jetzt auch durch die Pandemie als besonders fatal erwiesen hat, weil zum Beispiel ständig Lieferketten unterbrochen werden. Wir haben diese Entwicklung zwar schon vor der Pandemie beobachtet, aber jetzt ist es natürlich extrem. Oder: um Lagerkosten zu senken, wird seit Jahren nur noch just in time produziert, also dem Bedarf entsprechend ohne Puffer und Reserven. Manchmal fehlt auch einfach nur das Verpackungsmaterial. Hier greift konsequent die marktwirtschaftliche Logik, es wäre langweilig, jetzt in die bekannten Details zu gehen.Sie kennen sich aus, in sozusagen zwei (Gesundheits-) Systemen. Ihre Mutter war von Beruf Apothekerin. Sie leitete zu DDR-Zeiten eine Apotheke in Berlin und war davor Leiterin der TKO bei Berlin Chemie, das war quasi die technische Kontrollinstanz für die Freigabe von Medikamentenchargen. Nach der Wende studierten Sie Pharmazie, wurden dann auch Apotheker wie Ihre Mutter. Wie war das denn damals in der DDR organisiert? Wäre man in der DDR besser vorbereitet gewesen? Nun. Das waren vielleicht die wenigen Vorteile der Planwirtschaft. Innovation hat sie in keiner Weise gefördert, vom Doping mal abgesehen, aber die Grundversorgung an Medikamenten war eben gewährleistet. Und, ganz wichtig, wenn nicht, sind konsequent Köpfe gerollt. Noch schlimmer: Es geht ja eben nicht nur um Fiebersaft. Es geht um die Basics, es fehlen Medikamente zur Behandlung von Herzkreislauferkrankungen, es fehlen Cholesterinsenker, Diabetesmedikamente, Krebsmedikamente und es fehlen ausgerechnet jetzt grundlegende Antibiotika. Die Wirkstoffe aus China und Indien kommen nicht kontinuierlich und in ausreichender Menge an. Gerade sind circa 300 Medikamente in Deutschland nicht verfügbar, das muss man sich mal vorstellen! Das ist schon sehr kurios und beschämend für eine so hochindustrialisierte Nation wie Deutschland. Und: wir sprechen ja jetzt nicht von Hightech. Es geht um Standardmedikamente, also um Wirkstoffe, die zum Teil vor vielen Jahren entwickelt wurden und natürlich auch in der DDR zum Standard gehörten. Der Unterschied ist: Die DDR-Pharmaindustrie war national organisiert. Es wurde ausschließlich in der DDR produziert. Bestimmte Sachen kamen vielleicht auch aus Ungarn, es gab Handelsbeziehungen, ja, aber die Pharmaindustrie war quasi ein nationales Anliegen.Trotzdem. Gab es Lieferengpässe in der DDR?Natürlich gab es die, aber nicht in dem Ausmaß. Vielleicht, wenn eine Charge fehlproduziert wurde. Oder bei Jenapharm mal eine Produktionsstrecke „abgebrannt“ war, aber eigentlich gab es das in diesen Größenordnungen nicht, weil wir selbst produziert haben.War das der gute Teil der Planwirtschaft? Also dass Elemente der Daseinsvorsorge, wozu man Medikamente ja auch zählen kann, staatlich organisiert waren? Der Ärzteverband hat jetzt sogar einen „Flohmarkt“ vorgeschlagen, um die Arzneimittelknappheit zu bewältigen.Oh, darf man so etwas überhaupt fragen? Aber ja, wenn es um Grundversorgung geht, mit der klaren Verantwortlichkeit: Staat, dann könnte man zu dieser Einschätzung kommen. Der Flohmarkt ist jetzt eine völlig neue Idee, da bin ich erstmal überfordert. Aber ja, warum nicht. In der Krise sollte es keine Denktabus geben.Kapitalismus, Globalisierung, was verursacht Ihrer Meinung nach zusätzlich die Misere?Der Gesundheitsmarkt ist profitorientiert, auch das ist eine Binse. Was den Pharmamarkt angeht, läuft das so: Der forschende Originalhersteller entwickelt mit Milliardenaufwand ein neues Medikament und darf es dann x Jahre exklusiv zu sehr satten Preisen auf den Markt bringen. Dann läuft die Lizenz aus und er muss alles, was er macht, offenlegen. Dann kommen die „Ratiopharms“ der Welt, die sogenannten Generika-Hersteller, schauen sich das an und produzieren es in gleicher Qualität nach. Nach einigen Jahren kostet dann so ein Präparat nicht mehr 350, sondern nur noch zwischen 15 und 20 Euro und das ist ja auch erst mal völlig okay. Um diese Generika-Hersteller geht es zurzeit. Da gibt es also zig Firmen, die alle das Gleiche nachbauen, die haben Preisdruck und sie konkurrieren um die Gunst der Krankenkassen.Placeholder infobox-1Sie konkurrieren um die Gunst der Krankenkassen?Die Politik der Rabattverträge der Krankenkassen mit den Generika-Herstellern hat die Situation grundlegend verändert. Alle Generika-Hersteller versuchen heute, mit den Krankenkassen exklusive Versorgungsverträge zu bekommen. Da diese Ausschreibungen weltweit laufen, sind unzählige neue Hersteller auf den deutschen Markt gedrängt. Das gleiche Produkt muss in den Apotheken jetzt nicht von drei, sondern manchmal von zehn Herstellern vorgehalten werden, einfach, weil jede Krankenkasse mit einem anderen Hersteller einen Vertrag hat. Da werden Ressourcen verbrannt, die Regale sind voll von gleichen Produkten von verschiedenen Herstellern zu einem weitgehend gleichen Preis. Man muss aber fairerweise dazu sagen, dass diese Hersteller-Vielfalt uns jetzt manchmal auch rettet, weil irgendeiner der 30 Anbieter dann doch das Amoxicillin liefern kann.Heißt also, meine Krankenkasse erstattet das Rezept bei einem bestimmten Wirkstoff nur noch von Hersteller X, aber nicht von Hersteller Y wegen dieser Rabattverträge?Richtig, jetzt in der Krise sind wir natürlich von diesen Restriktionen befreit, aber genauso hat das jahrelang funktioniert. Ich verstehe die marktwirtschaftliche Idee dahinter und für die Krankenkassen senkt das auch die Preise. Aber das wunderbar globalisierte Gesamtkonstrukt Generika-Herstellung ist eben auch sehr fragil und auf Kante genäht. Und wenn Sie mich fragen, muss sich die Politik schon fragen lassen, was hier schiefläuft und ob der Gesundheitsmarkt im Kapitalismus richtig aufgehoben ist. Kurios ist auch: in Polen ist Fiebersaft zu haben. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.Und am Ende hat Polen keinen Fiebersaft mehr, weil die Deutschen alles wegkaufen. Wie kann Gesundheitsminister Karl Lauterbach hier gegensteuern?Der Gesetzgeber hat natürlich auch in einem marktwirtschaftlich organisierten System Möglichkeiten. Aber Sie wissen ja, immer, wenn irgendjemand auf die Idee kommt, in unternehmerische Freiheiten einzugreifen, gibt es einen neoliberalen Aufschrei und die entsprechenden Vertreter faseln dann von nordkoreanischen Verhältnissen und vom Untergang des Abendlandes. Was die Fiebersäfte angeht sind wir in der Lage, wenn sich die Situation noch verschärft, Fiebersaft in den Apotheken selbst zu produzieren, einige wenige machen das auch schon. Ich kann auch dazu verpflichtet werden, wenn der Gesetzgeber das will. Letztlich: es ist keine Hexerei, lediglich viel zu aufwändig. Der Unterschied zur DDR ist hier wieder interessant. Denn wir kannten ja nur Fieberzäpfchen. Die sind heute verpönt. Aber Fieberzäpfchen haben wir aktuell noch vorrätig. Aber mitunter kommt tatsächlich eine Mutter in die Apotheke, die ihr Kind lieber ins überfüllte Krankenhaus fahren würde, als ein Zäpfchen als Alternative zu akzeptieren. Wir wissen ja, wie die Situation gerade in den Krankenhäusern ist. Moment, Sie schauen jetzt so kritisch! Aber ja, diese Mütter gibt es, können Sie mir glauben. Aber auch diese Väter.Wollen Sie sagen, dass wir manchmal zu verwöhnt sind? Oder zu hysterisch?Ich würde sagen, dass Überfluss entmündigt. Wenn Sie zwischen zig Darreichungsformen wählen können, nehmen Sie natürlich das Bequemste, die Sonderform als Granulat-Stick mit Erdbeergeschmack, die man sich ohne Wasser unterwegs in den Mund streuen kann, weil die einfache billige Tablette ja Mist ist, und die Werbung redet uns ja auch pausenlos ein, dass diese teuren Sonderformen lebensnotwendig sind. Das Zäpfchen, wie gesagt, ist kulturell inzwischen völlig verpönt. Dabei kann man sogar improvisieren. Kleiner Tipp, Sie könnten dem Kind auch eine Paracetamol-Tablette als Zäpfchen-Ersatz verabreichen, also für den Fall, dass nach dem Fiebersaft noch die Zäpfchen ausgehen. Gleitet natürlich nicht so schön.Aber das darf man nicht empfehlen als Apotheker, oder?Keine Ahnung, im Notfall schon. Ich mache das immer wieder mal.Mussten Sie schon Kund:innen nach Hause schicken?Noch können wir zaubern. Bisher konnten wir in einem privat organisierten Verbund von befreundeten Apothekern (keine Kette) uns gegenseitig helfen. Aber die meisten Apotheken können das nicht. Und in gewisser Weise rationieren auch wir jetzt schon, wir fragen nach. Der Mutter, die Fiebersaft für ihren vierzehnjährigen Sohn kaufen will, sagen wir, dass es auch Paracetamol oder Ibuprofen in Tablettenform tut. Der Fiebersaft ist wirklich dringenden Fällen vorbehalten. Da können wir ja schlecht sagen, mach mal einen Wadenwickel. Der Wadenwickelfunktioniert natürlich super, aber den beherrscht ja niemand mehr.Und wie geht es weiter?Wir können, wie gesagt, Fiebersaft herstellen. Wir dürfen, wir können auch. Wir können natürlich auch den Wirkstoff nicht beziehen, aber wir können die Tabletten nehmen, die sind ja reichlich da, z. B. mit Ibuprofen. Dann wird das gemörsert, gelöst, mit Geschmackskorrigenzien und Konservierungsstoffen versehen und fertig ist der Fiebersaft. Aber auch das: Auch in den Apotheken sind zurzeit zu viele Mitarbeiter krank wie in ganz Deutschland, unsere Personalressourcen sind knapp und stetig wachsender bürokratischer Aufwand macht es nicht besser, aber irgendwie würde es gehen. Was wir nicht können, ist Generika selbst herstellen.Wittert die Branche aktuell hier ein Geschäft so wie mit der Desinfektion, den Covid-Tests und den Masken in der Pandemie?Richtig ist, in Krieg und Krise wird immer viel Geld verdient. Wenn die Apotheker da ein Geschäft wittern, ist das erstmal nicht verwerflich. Die Erfahrungen mit der Pandemie haben gezeigt, dass einerseits besonders die privat geführten Einzelapotheken durch Kreativität und besonderes Engagement erstaunliche Leitungsfähigkeit, Kreativität und Flexibilität bewiesen haben. Was da gewuppt wurde, war schon beeindruckend. Zur Wahrheit gehört aber auch dazu, dass es nicht nur Einzelfälle waren, die zum Beispiel im anfänglichen Chaos rund um die Maskenverteilung die Gelder der Bundesregierung nahmen, ohne die entsprechende Gegenleistung zu erbringen. Das macht mich heute noch wütend. Aber wie immer und überall, wo Licht ist, ist auch Schatten.
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