Herr Husvari* stammt aus Turkmenistan. Das Land grenzt an Afghanistan, das weiß man, aber warum Menschen von dort flüchten, könnte ich jetzt nicht beantworten. Weltweit sind Millionen Menschen auf der Flucht. Es klingt vielleicht brutal, aber Turkmenistan kommt mir dabei nicht als erstes in den Sinn.
Mein deutscher Alltag. Mann, Arbeit, Kinder, die Tischtennis spielen und Klavier. Man ärgert sich über die unaufgeräumte Wohnung. Man hat Urlaubspläne für den Sommer. Dann noch Zeitung lesen, Deutschlandfunk, Facebook. Da waren die Morde an den Redakteuren von Charlie Hebdo. Das schreckliche Attentat verdrängte für eine Zeit die schrecklichen Bilder vom Bürgerkrieg in Syrien. Ein anderer Tag. Die Stadt Kobane soll jetzt irgendwie befreit sein. Ein anderer Tag. Kopenhagen. Zwischendurch rücken die Kosovaren kurz ins Bewusstsein. Ihr Staat ist als „nicht sicheres Herkunftsland“ eingestuft, weshalb Serben, die zu uns wollen, ihre Pässe fälschen und Kosovaren werden. Täglich kommen Tausende echte und unechte Kosovaren nach Deutschland. Und jetzt bringen sie auch noch Masern mit. Ich könnte immer so weiterschreiben.
Gestern verließ ich mit den Kindern und bepackt mit Einkaufstüten den besseren Supermarkt, den wir frequentieren. Ein schrottreifes Wohnmobil mit bulgarischem Kennzeichen wurde da gerade auf dem verwahrlosten Parkplatz geschoben, der gleich neben dem benachbarten, billigeren Supermarkt liegt, wo wir nur im Notfall einkaufen. Drei Kinder wie aus einem Roma-und-Sinti-Bildband gefallen, spielten drum herum und lächelten mich an.
Ich schaue hin und immer wieder weg. Ein Freund von mir arbeitet an einem Buch. Es soll ein Sachbuch über Schnittrosen aus Afrika werden. Schlimme Geschichte, die Ausbeutung beim Handel mit Schnittrosen. Sein Buch wird auch ein Buch über das schlechte Gewissen von uns, den um 1970 geborenen Deutschen. Ich kenne es nur zu gut, und damit zurück zu Herrn Husvari aus Turkmenistan. Eine verrückte Meldung neulich auf Spiegel Online blieb hängen: Weiß sei die Lieblingsfarbe des Präsidenten mit diesem unmerkbaren Namen, Gurbanguly Berdimuhamedow. Künftig sollen deswegen nur noch helle Fahrzeuge auf den turkmenischen Straßen zugelassen sein.
Den Turkmenen Husvari hat es in unsere Stadt Berlin verschlagen. Er wohnt in einer Notunterkunft für Flüchtlinge in unserem Kiez, dem Prenzlauer Berg. So gesehen ist er mein Nachbar. Herr Husvari hat Krebs. Vier Wochen Krankenhaus, er hatte keine Zeit, sich um Formalitäten zu kümmern. Er wäre auf sich allein gestellt, gäbe es da nicht die „Initiative UnterstützerInnen_Strassburger“. Vor einigen Wochen habe ich Kontakt zu ihnen aufgenommen. Wer in ihrem Verteiler ist, bekommt täglich Mails. Zum Beispiel: Es werden noch Herrenklamotten in Größe S gesucht. Oder: Es fehlt noch ein Freiwilliger, der den Donnerstagdienst zwischen 15 und 17 Uhr übernimmt. Oder: Es muss geklärt werden, wohin die blauen Säcke aus dem Keller sollen. Gestern habe ich gebeten, dass man mich wieder aus dem Verteiler nimmt. Diese ständigen Mails. Die Kleiderkammer, nein, das ist es einfach nicht.
Ein Ausweis und sehr viel Zeit
Mein schlechtes Gewissen und mein innerer Schweinehund befinden sich im Dialog. Es fällt mir schwer, mich festzulegen. Ich frage mich, wie könnte ich mich engagieren? Was passt zu mir? Vom Temperament? Von den Kapazitäten? Und, ja, auch von der Lust. So ein Dienst in einer Kleiderkammer ist doch läppisch gemessen an dem, was man eigentlich tun könnte. Bis 17 Uhr, ist das nicht ungünstig? da muss ich ja längst die Kinder abholen? Ich mache also nix und denke: Etwas armselig ist das schon, sich auf dem Liken von Anti-Pegida-Demonstrationen auszuruhen.
Und dann mache ich doch mal was. Ich kümmere mich um die dringenden Angelegenheiten von Herrn Husvari aus Turkemistan. Es geht um die Krankenscheine, die Kostenübernahme für Kost und Logis und das Taschengeld, das beim Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales abgeholt werden soll. Es ist mein erstes Ehrenamt, das den Namen auch verdient. Bisher war ich nur zum Waffelbackdienst in der Schule angetreten. Habe Geld und Kleider gespendet. Bin Mitglied beim BUND. Kriege aber die Mitglieder-Zeitschrift seit Jahren nicht mehr, weil ich umgezogen bin. Dagegen klingt mein Auftrag jetzt geradezu aufregend.
Morgens um neun Uhr, am Eingang vor dem Flüchtlingsheim, hier soll ich die Vollmacht abholen, drei Hipster stehen da. Ich denke an meinen Hipster-Neffen und will sie anlächeln, aber das wäre jetzt albern. Am Empfang erwartet mich schon die Security, ein netter, dicker Mann, er spricht Arabisch und Deutsch. Die Heimleiterin Yvonne Lieske trägt verwaschen gesträhnte Haare und irgendwie lackierte Nägel. Ich finde sie toll. Sie tut definitiv mehr, als sie müsste. Das erkennt man sofort. Ich tue definitiv weniger, als ich könnte, das fällt mir sofort wieder ein. Frau Lieske hat alle Unterlagen in Kopie zusammengestellt, unter anderem den Ausweis. So sieht Herr Husvari also aus. Frau Lieske sagt, dass er inzwischen ganz abgemagert ist. Die Heimleitung muss ihn abmelden, wenn er die notwendigen Papiere nicht vorlegt. „Sie brauchen Ihren Ausweis und sehr viel Zeit“, sagt Frau Lieske. „Vielleicht geht es bei Ihnen etwas schneller.“ Aber natürlich will ich anstehen.
Henri, der zusammen mit seiner Frau Ines die Helfergruppe für das Flüchtlingsheim gegründet hat, stammt aus Dresden. Der Komponist und die Bauinformatikerin wohnen in dem Haus, das sie früher im Prenzlauer Berg besetzt haben. Menschen zwischen 30 und 50 Jahren, Freiberufler und Künstler, Akademiker, der Kiez eben. Leute wie ich mit einem Facebookstream und dem Gefühl, dass man nicht einfach so weitermachen kann. Wenn Henri und Ines reden, klingt das nach einem Fulltime-Job (mit Überstunden). Die Initiative will Flüchtlingen dabei behilflich sein, Boden unter die Füße zu kriegen, auch wenn die Angst vor der Abschiebung immer bleibt. Da hilft kein Fußball- oder Stricknachmittag, das wissen die beiden. Aber besser diese Projekte als gar nichts zu tun. Die Initiative bietet außerdem Infoveranstaltungen zum Asylrecht. Gibt einen Leitfaden für Flüchtlinge heraus. Sucht nach Anwälten, die die Asylverfahren begleiten. Sucht Psychotherapeuten, die Gutachten anfertigen. Ich habe Hemmungen, die Juristen und Therapeuten aus meinem Bekanntenkreis anzusprechen, sage ich. Hemmungen? Haben wir längst abgelegt, antwortet Ines.
Wir diskutieren über das Dublin-System. „Es muss weg“, sagt Henri. Immer wieder droht den Familien die Abschiebung in die Länder, über die sie in die EU eingereist sind. Und der brain drain, sagt Henri. Die Länder bluten aus. Mein schlechtes Gewissen meldet sich, gegen die konkrete Abschiebung kann ich ja nichts tun. Könnte ich sie mit echter Zivilcourage stoppen? Henri und Ines grübeln nicht, sie machen einfach. Ich traue den beiden zu, dass sie sich notfalls auch irgendwo anketten würden. Ich merke, während ich da sitze, Kaffee trinke und rauche, das hier ist politisch, das ist existenziell. Gestern hat man ein Flüchtlingscamp in Dresden angegriffen.
Meine Mission geht los. Mit der Vollmacht ausgerüstet bin ich beim Landesamt für Gesundheit und Soziales im Stadtteil Moabit angekommen. Unübersichtliches Gelände, eine Pförtnerin blafft mich an. Deutsch ist zwar meine Muttersprache, aber bei so einer Frau gerate ich trotzdem ins Stocken. Ich traue mich nicht, nachzufragen, wo ich hin soll. Und will schon wieder jemanden anlächeln.
Überall Koffer und Menschen im Landesamt. Ich stelle mich in eine lange Reihe draußen, um überhaupt in das Gebäude zu gelangen, dann eine andere Reihe, um überhaupt zum Tresen zu gelangen, an dem mir eine Wartemarke ausgehändigt wird. Mit der gehe ich dann zu den zuständigen Sachbearbeitern im ersten Stock, vor deren Büro ich wieder warten muss. Die Stimmung ist wie früher auf dem Arbeitsamt. Man hofft auf einen patenten Büromenschen. Ich werde nicht zuvorkommender als die anderen behandelt, auch nicht, als ich mich nach zwei Stunden mit der Vollmacht von Frau Lieske winkend nach dem weiteren Prozedere erkundige. Einer scherzt mit mir: „Aber nicht vordrängeln!“ Ich will mich doch nicht vordrängeln. Nur das nicht.
Libanon, Trier, Klavier
Ich spreche mit einem Musiker aus dem Libanon, er teilt sich ein Zimmer mit 18 anderen Leuten, im Libanon wurde er wegen seiner Homosexualität verfolgt. Steht als Vermerk auf dem Zettel, den er mir kurz zeigt. Ich unterhalte mich mit einem Kosovaren und einem Syrer. Der Syrer soll jetzt nach Trier umziehen. Ich erzähle ihm, wie schön es da ist, die Mosel und so. Wir sind irgendwie aufgekratzt. Es ist nicht so, dass das Schicksal des einen automatisch das Schicksal des anderen ist. Es wäre ja sonst nicht zum Aushalten. In meinen Blick gerät, was ich gut aushalten kann: Der Libanese unterhält sich mit dem Kosovaren auf Italienisch, sie reden darüber, dass sie Spanisch auch ganz gut sprechen, aber Spanisch ungleich schwieriger sei. Eine Frau kommt dazu, sie diskutieren über klassische Musik. Der Syrer sagt: Ich spiele auch Klavier.
Endlich. Nach vier Stunden habe ich die Papiere für Herrn Husvari, darunter eine Aufenthaltsgestattung für die nächsten vier Wochen. Ich hüte die Unterlagen in der Kladde wie einen Schatz, ganz kurz habe ich ein heldenhaftes Gefühl. Na ja. Der sehr patente Herr Roggemann hatte den Fall Husvari zügig bearbeitet. „Und Sie, Frau Schmitz? Kann man Sie denn erreichen? Also, falls noch etwas ist?“ Ich antworte ausweichend. Du verdammter innerer Schweinehund. Dann suche ich das Auto. Stundenlang hatte ich gebangt: Hoffentlich ist es nicht abgeschleppt.
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