„Radikale Zärtlichkeit“ von Şeyda Kurt: Mit Triggerfaktor

Sachbuch Soll man Popcorn holen? Über Şeyda Kurts „Radikale Zärtlichkeit – warum Liebe politisch ist“
Ausgabe 19/2021
Şeyda Kurt wirbt für eine postkapitalistische queere Gesellschaft, es geht ihr um eine neue Ethik der Liebe
Şeyda Kurt wirbt für eine postkapitalistische queere Gesellschaft, es geht ihr um eine neue Ethik der Liebe

Foto: Jens Kalaene/dpa

Das Thema Identitätspolitik produziert gerade ordentlich Testosteron (auch von uns Frauen), auch in der Literatur, logisch. Wer sich zuletzt mehr Debatte wünschte, geht dieser Tage öfter „Popcorn holen“, was eine ironische Redensart für die Höhe des Triggerfaktors ist, also für den Grad der emotionalen Aufwühlung. Dazu kommt ein gewisser Unterhaltungswert. Gekämpft wird um mehr Repräsentation im Kulturbetrieb, (siehe offener Brief zu den Buchpreis-Nominierungen der Leipziger Buchmesse) oder gegen kulturelle Aneignung oder, oder – die ganze identitätspolitische Palette halt. Es geht darum, ob eine weiße Schriftstellerin einen Dialog erfinden darf, bei dem ein Sklave spricht (nein, darf sie nicht). Oder ob eine weiße Frau das Gedicht einer PoC-Dichterin übersetzt, (nein, bekanntlich auch gecancelt, auch wenn diese als queere Person zu einer marginalisierten Gruppe zählt). Es geht darum, was in den Kanon rein soll (mehr Frauen!) oder in neuem Licht betrachtet werden muss (kolonial kontaminierte Literatur inklusive Marx). Und es geht um Stereotype. In der Literatur sind das zum Beispiel erotische Frauen asiatischen Typs, weshalb Verlage heute Manuskripte immer häufiger „sensitiv“ lesen lassen. Meint: „woke“Menschen identifizieren Stellen, die nicht okay sind.

Und immer öfter wird ein Buchprojekt oder der Autor – pardon – „gecancelt“. Cancel Culture. Die einen halten die Rede von ihr für eine fiese Übertreibung „weißer Männer“, die ihre Privilegien notfalls mit Schießbefehl verteidigen, die anderen finden, meist heimlich, dass es sie sehr wohl gibt. Es ist kompliziert. Das bekennt auch die Autorin Şeyda Kurt in ihrem Buch, in dem es eigentlich um Liebe gehen soll. Es verstärkt sich beim Lesen aber ein anderer Eindruck. Nämlich der, dass wer nur irgendwie Sachdienliches zum Komplex leistet, durchgewunken wird. Denn so lange das Anliegen gut gemeint ist und die Verfasser*in sprechen darf, also niemand brüllt: Nein, die darf es nicht, hofft man auf ein Stück vom neuen Kuchen. Kurt ist laut Selbstauskunft „rassifiziert“ und „cis“, heißt, sie hat Migrationserfahrung und ihre Privilegien „gecheckt“. Man kann auch sagen, sie wurde 1992 geboren, studierte Philosophie und Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux, Berlin. Und Kurt hat „ein Problem mit der Emotionskultur unserer Gegenwart“. Sie meint damit das von „cis Männern“ erfundene romantische, „koloniale“ Konzept der Liebe, von dem einzig der „weiße, bürgerliche cis Mann“ profitiert. Kurt wirbt für eine postkapitalistische queere Gesellschaft, es geht ihr um eine neue Ethik der Liebe. Das ist interessant, zweifellos. Aber sollten Kurts Thesen eine Einladung sein, sich unvoreingenommen einzulassen, wird man sie leider ausschlagen.

Ein beherztes „Fuck you!“

Ziemlich disparat fliegen die Gedanken von Rassismus zu queer, es geht von Platon zu Judith Butler, nach Hanau über Wut zu US-Serien, es gibt ein fiktives Interview mit Marx, Zeilenschinderei, Anglizismen, Kitsch. Kurz: Alles, was entfernt passt, steht drin. Sogar Catherine Deneuves Anti-Metoo-Aufschrei wird rekapituliert. Die Bereitschaft, sich Argumenten zu öffnen, sinkt beim Lesen rapide, selbst da, wo sie zutreffend sind, denn die Institution Ehe zum Beispiel ist ja schlicht steuerrechtlich überholt. Kontraproduktiv ist aber vor allem die Adressierung der potenziellen Leser*in, die de facto gecancelt wird. Demnach wäre ich zum Beispiel eine „weiße Kompliz*in“ der „christlich-deutschen Dominanzgesellschaft“, weshalb man mir ein beherztes „Fuck you!“ entgegenbrüllen darf, denn die Autorin versteht darunter einen Akt des Widerstandes und großer Zärtlichkeit. Wie übergriffig sie selbst mitunter agiert oder bevormundet, fällt ihr nicht auf (auch nicht dem Lektorat). Denn wäre ich die renommierte, israelische Soziologin Eva Illouz, die Kurt häufig zitiert, würde ich ganz gerne gefragt werden, ob ich in einen Topf mit „queeren, jüdischen, Schwarzen, antikapitalistischen und anderen Autor*innen“ verrührt werden will, „die seit Jahrzehnten unermüdlich an der Utopie eines radikal neuen Miteinanders arbeiten“.

Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist Şeyda Kurt Harper Collins 2021 , 224 S., 18 €

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Katharina Schmitz

Redakteurin Kultur

Katharina Schmitz

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