Wenn mich einer fragte, welches der schönste Roman des Frühjahrs ist, würde ich antworten: Frühlingserwachen von Isabelle Lehn, und hinzufügen, der schönste Roman ist freilich zugleich der schmerzlich-schönste Roman, denn ohne süßen Schmerz ist die Schönheit nichts. Aber ist es denn überhaupt ein Roman? Eher das bekannte Verwirrspiel mit dem Gattungsbegriff. Gemeinsam mit ihrer Lektorin überlegt die Protagonistin, die denn auch Isabelle Lehn heißt und Schriftstellerin ist, an einer Stelle, welchen Gattungsbegriff das Manuskript bekommen sollte, an dem sie arbeitet. „Roman“ könne die Leser verwirren, meint die Lektorin. Lehn hält dagegen, die Leser müssten schon aushalten, nicht zu wissen, ob die Erzählerin auch „in echt“ depressiv sei. Die Lektorin insistiert: „Sie muss echt depressiv sein!“
Man hat es hier also einmal mehr mit einem radikal autobiografischen Projekt zu tun. Wahrheitsanteil: „Zweiundsechzig Prozent, vielleicht dreiundsechzig Prozent.“ Was aber Isabelle Lehn dem Großmeister Karl Ove Knausgård, der in diesem Roman ein wichtiger Bezugspunkt ist, voraus hat, also dem sehr komplizierten, sehr männlichen Knausgård, ist ein typisch weiblicher Galgenhumor, und das, obwohl oder gerade weil es oft herzlich wenig zu lachen gibt. Lehn stammt aus Bonn, ist das Lakonische vielleicht rheinisch geprägt?
Nehmen wir die tragikomische Anfangsszene mit dem Lama Gonzales, die Lehn als souveräne, leichtfüßige Erzählerin ausweist; rein handwerklich könnte sie vermutlich also einfach einen „richtigen“ Roman schreiben, ja, als promovierte Rhetorikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leipziger Literaturinstitut könnte sie das ganz sicher, also zum Beispiel den Erzählstrang weiter ausarbeiten, der davon handelt, dass sie mit ihrem Mann kein Kind bekommen kann; das Leiden an der Reproduktionsmedizin, die sie als Gewalterfahrung erlebt, ist unheimlich gut geschrieben.
Lehn könnte auch erzählen, wie diese Ehe dann in die Brüche geht. Oder ausführen, wie die Liebe später mit ihrem Freund Vadim nicht klappt – und mit einem wie Vadim könnte es doch wirklich klappen? Sie könnte auch die Geschichte ihrer Depression erzählen, und die ihres Therapeuten, der ihr rät, das Leben als eine „essayistische Existenz zu begreifen, wenn ihr die große Erzählung nicht liegt.“ Und Isabelle Lehn wäre so gerne wie Roger Willemsen, „episodisch, facettiert, universalinteressiert“! Es könnte auch eine Geschichte über Frauen und Freundschaften sein, Lehns Freundinnen haben allesamt das Zeug zum Charakter. Aenne will nur unter Bedingungen im Roman vorkommen und wissen, ob dieser den Bechdel-Test bestehen würde. Sollte also besser die Mutter Krebs bekommen statt ihrem Vater? Und keine ist so ungnädig wie Tien, man müsse doch wissen, ob man wirklich Kinder will.
Isabelle Lehn könnte also diesen Roman schreiben, oder gleich mehrere Romane aus diesem Stoff weben. Wäre da nicht der überaus produktive und intellektuelle Kampf mit dem Schreiben, der ihr ein Schnippchen schlägt. Und natürlich die dreiundsechzig Prozent wahres Leid, das nur so seinen Ausdruck findet. So bleibt es bei einem klassischen Prolog, bevor es weitergeht mit der essayistischen Existenz.
Lama-Liebe
Los geht Frühlingserwachen mit einer „therapeutischen“ Wanderung in den Dolomiten. Ausgerechnet Gonzales, das störrischste Lama, hat sich für die Ich-Erzählerin entschieden und wenn „Lama-Peter“ sagt, die Lamas „studierten die Körpersprache und durchschauten uns unmittelbar“ ist das kein gutes Omen für jemanden wie Lehn, und wenn sich zuerst alle Lamas wegdrehen und nur Gonzales stehen bleibt, ahnt der Leser schon, dass hier nicht zuletzt eine warme Geschichte über das Scheitern erzählt wird, das letztlich doch relativ ist.
Isabelle Lehn als Isabelle Lehn hat auch ein Faible für Biochemie und Statistiken. Im Frühjahr, googelt sie, steige die Suizidrate an, gegen die Depression nimmt sie Cipralex, einmal fällt ihr eine Tablette zu Boden, worauf die Katze sie nascht, und Katzen, die Alkohol trinken, würden nie wieder nüchtern, ihnen fehlt ein Enzym, findet sie heraus ... Wir erfahren, dass Lehn, die wir ganz knausgårdisch beim Schreiben des nächsten Romans begleiten, sich ärgert, dass dieser Knausgård über Emma Bovary reflektiert, dabei hat Lehn doch gerade Flauberts Briefe auf dem Nachttisch, was sie der Literaturagentin klagt: alles was sie aufschreiben wolle, hätte immer schon jemand anderes vor ihr aufgeschrieben.
Die Agentin tröstet, es sei doch „genug Leid für alle da“. Heißt: mit Knausgård hat es sich nicht auserzählt. Dessen Themen sind der übermächtige Vater, seine eigene Überforderung als Vater. Lehn dagegen hadert mit dem Kinderwunsch, ihrem „kaputten Körper“, der trotzdem so maßlos ist. Sie raucht, sie hat ihr Sexleben keineswegs unter Kontrolle, sie fällt immer mal nächtens betrunken vom Rad. Sie lebt dieses Leben.
Info
Frühlingserwachen Isabelle Lehn Fischer Verlag 2019,256. S., 21 €
Wie Tati
Geboren und aufgewachsen in Rumänien, lebt und arbeitet die Illustratorin und Grafikdesignerin Andreea Dobrin Dinu heute in Hamburg. In ihrem Studio Summerkid entstehen die lustigen Zeichnungen, bei deren Betrachtung man stets ein gewitztes Detail findet, das stutzig macht, das Szenen des Alltags auf den Kopf stellt.
Die Künstlerin sagt, die Bilder sollen den Betrachter an den joie de vivre erinnern, den wir vielleicht noch aus den Sommern erinnern, als wir Kinder waren. Und tatsächlich, ihr Humor erinnert an lustige Ferien mit Monsieur Hulot.
Dinu studierte Grafikdesign in Bukarest, Illustration und Typographie in Leipzig. Im Jahr 2018 erhielt sie den britischen World Illustration Award Talent.
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