Man fühlt beim Lesen. Meist fühlt man mit der Hauptfigur mit, seltener mit dem Sidekick, manchmal sogar mit einem, der noch gar nicht geboren ist, wie zum Beispiel bei Ian McEwans köstlichem Roman Nussschale. Gut, manchmal fühlt man vielleicht auch ein wenig zu viel. Volker Weidermann etwa will geweint haben beim Lesen von Hanya Yanagiharas krassem Epos Ein wenig Leben (Freitag 4/2017). Aber warum nicht? Uns nicht kalt zu lassen, ist doch eigentlich ein Indiz für gute Literatur.
Bei Nina & Tom lässt man sich reinziehen. Man kann gar nicht anders, als zum Beispiel intensiv darüber nachzudenken, was für ein Leben man hätte, wenn man selbst so todkrank wäre wie Nina. Der Roman beginnt mit einer Szene morgens im Bett, dem Tag, „als Nina zum letzten Mal in den Spiegel schaut“. Tom hat beschlossen, seine Frau zu Hause zu pflegen, sie nicht in ein Hospiz zu geben. Der Blick zoomt auf eine einmal schöne Frau, der an diesem Morgen der Speichel aus dem Mund läuft. Es wird angeteasert, was später durch Rückblenden das Bild einer Liebesgeschichte ergibt, eine ziemlich dysfunktionale Beziehung ist das, die man doch oder gerade deshalb Liebe nennt. „Manche Möbel haben Schäden, die auf Gewalt verweisen“, steht da. „Ihr narzisstischer Jetzt-und alles-Terror konnte nur befriedigt werden, wenn man sie körperlich schockierte.“
Der älteste Sohn Henry ist 16. Er findet es komisch, dass die Mutter in kein Hospiz gebracht wurde. „You are so weird, Dad“, sagt er auf Englisch. Die Familie lebt in Los Angeles. Das Loft haben die Eltern liebevoll „Widerstandsnest“ genannt, wohl als Symbol dafür, dass hier zwar Boheme-Verrückte wohnen, die nie richtig dazugehören wollten, die oft viel zu intim beieinander leben, sich aber todsicher zusammenraufen und trainiert sind, wenn es einmal hart auf hart kommt. Henry und sein jüngerer Bruder Jack gehen gefasst mit der Tatsache um, dass die Mutter sterben wird, sie checken ihre iPhones, machen ihr Ding. Manchmal hat Henry „sämtliche Selbstschutzjalousien heruntergefahren, Jack zieht sich alles ungefiltert rein“, sonst leben die Jungs brutal tröstlich im Jetzt, dieser Tod scheint auch ein Faszinosum.
Detonierende Napalmwand
Nina & Tom stellt einmal mehr die Frage, ob es sich hier mehr um einen klassischen Roman oder um Autofiktion handelt. Klar, Roman steht vorne drauf, aber viel Realität ist innen drin: Es gibt diesen Tom Kummer, es gab diese Nina, die Kinder heißen wie im wahren Leben Henry und Jack. Wie viel Fiktion er reingeschmuggelt hat, ist unklar, auch nicht so wichtig. Vielleicht liegt es daran, dass die Wirklichkeit hier eine Intensität bekommt, die sie unweigerlich in die Nähe des Romans bringt. Bei Kummer kann man sowieso davon ausgehen, dass die Grenzen fließen, für Medienleute ist seine journalistische Karriere ein alter Hut. Kummer wurde in den 1980ern als bunter Straßenköter für Tempo bekannt, später berüchtigt, als er mit seinen Fakes für das SZ-Magazin aufflog. Nach dem Riesenskandal um gefälschte Interviews mit Celebritys nannte er seinen Stil „Borderline-Journalismus“. Man kann das alles mit dem gut gemachten Dokufilm Bad Boy Kummer (2011) rekonstruieren. Kummers Version kommt auch im Buch vor, die fiktive Begegnung mit dem todkranken Charles Bronson, für die er Sachbücher in die Luft warf, ein Pflanzenbuch auffängt.
Der narzisstischen Falle, die Autofiktion auch immer birgt, entgeht Kummer weitgehend. Die Passagen über den „Skandal“ sind die schwächeren Stellen des Romans, was daran liegen mag, dass Kummers Version heute noch etwas larmoyant lautet, die SZ-Redakteure hätten heimlich gewusst, was er tat. Es nagt immer noch in ihm, der vor nicht langer Zeit für Reportagen wieder ins Phantastische abglitt, von dem, was der Leser von einer Reportage nun einmal erwartet, abkam (extrem lesenswert ist sein Text über die mexikanisch-amerikanische Grenze allemal).
Das Buch schneidet die letzten Wochen mit Nina gegen ein schillerndes Leben. 1983. Tom begegnet Nina zum ersten Mal in Barcelona. Sie wirkt auf ihn wie eine androgyne Femme fatale. Nina nimmt Drogen, nicht weiter spektakulär, es sind die 1980er. Nina ist magersüchtig. Sie ist – man versteht das so – einfach radikal. Ein Roman würde dafür vielleicht Motive bieten, mehr als ein Schweizer Elternhaus gibt es aber nicht. So wie beim Schweizer Tom, der sich von Ninas Radikalität angezogen fühlt, dafür die eigenen künstlerischen Obsessionen zuerst zurückstellt. Tom geht zurück nach Berlin, Nina folgt ihm. Sie lieben und sie schlagen sich. Man will das lesen, schon allein weil Schriftsteller heute ihre Existenz nur noch selten als existenziell begreifen und verarbeiten, wahrlich ja auch kein zwingendes Kriterium. Später kriegen Nina und Tom die bürgerliche Kurve, als Kinder kommen. Immer dabei Ninas Lieblingsroman Love Story von Erich Segal und das Morgenlicht in Los Angeles steigt auf wie eine „detonierende Napalmwand“. Toll. So schreibt Kummer.
Fordert Nina & Tom Kollateralschäden, so wie beim Norweger Knausgård, dessen Frau einen Selbstmordversuch unternommen haben soll, nachdem sie Min Kamp gelesen hatte? Für die Söhne kann man sagen, dass diese Borderline-Eltern den Kindern eine zärtliche Robustheit mitgegeben haben. Was Nina angeht, schreibt Kummer am Schluss: „So endet unsere Liebesgeschichte. Mein persönlicher Bericht geht auf Ninas Kosten. Sie wird mich umbringen, wenn sie jemals davon erfährt.“
Info
Nina & Tom Tom Kummer Blumenbar 2017, 256 S., 20 €
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