Oh die Gewissensbisse!

Moral Zwischen Sünde und Versagen – über die Nöte derer, die alles richtig machen wollen
Ausgabe 51/2020
Wer ohne Tadel ist, hebe den ersten Zeigefinger
Wer ohne Tadel ist, hebe den ersten Zeigefinger

Foto [M.]: Imago Images (3); dpa (1)

Bestimmt gehen die allermeisten Menschen mit einer moralischen Richtschnur durchs Leben und kommen doch immer wieder vom rechten Wege ab. Elender Phlegmatismus: Jetzt habe ich schon wieder den Mehrwegkaffeebecher zu Hause vergessen! Das ist die Stunde des Moralisten. Er kann nicht hinnehmen, dass es nicht besser geht. Auch wird er im Kaffeebecher kein triviales Beispiel sehen, sondern eine Verfehlung, die in der Summe fatal ist. Der Moralist fühlt sich dort zuständig, wo ethische Standards nicht verbindlich geregelt sind, und deshalb mag man ihn nicht besonders, diesen Moralisten. Es hat sich eine ganze Publizistik herausgebildet, die ihm sein Tun madig macht. „Gutmensch“ ist da nur die kümmerlichste Zerrform seines Wesens. Bei Moralismus assoziiert mancher sofort eine Partei, andere denken schnell an Ideologie oder gar an Tyrannei. Warum nur? Dieser Frage gehen die Herausgeber des Bandes Kritik des Moralismus (Suhrkamp) nach, Christian Neuhäuser ist Professor für Praktische Philosophie an der TU Dortmund, Christian Seidel Professor für Philosophische Anthropologie am Karlsruher Institut für Technologie.

Diktat der Tugend

Der Antimoralist im Geiste Nietzsches, der im Grunde genommen ein besserer Moralist sein will, könnte nun einwenden: Schlimmer als der Kaffeebecher, den ich vergessen habe, ist der soziale Pranger, an den ich gestellt werde (wobei er uns rebellisch mit Glühwein zuprostet). Das ist die Argumentationsstruktur der Moralkritik heute. Sie führt zu was? Zu nichts.

In der Geschichte der Philosophie gilt Kant als rigoroser Moralist. Sein moralischer Imperativ duldet keine Ausnahme. Es war Nietzsche, der Immanuel Kants Moralkonzeption als ganze unter Moralismusverdacht stellte, wie Beatrix Himmelmann in dem Band herausarbeitet. Für Nietzsche stünden Kants Ideen exemplarisch für eine verfehlte, „lebensfeindliche“ Konzeption, aus der sich in der Folge dann „irrige praktische Ansprüche und Haltungen ergäben“. Die Welt ist aber auch verflixt kleinteilig. Überall scheint der Mensch, besonders wenn er im Norden der globalen Hemisphäre wohnhaft ist, moralisch zu versagen. Da ist die Flugreise mitten in der Klimakrise, eine Bestellung beim Internetriesen, die mindestens drei Bäumen das Leben kostet. Alltagshandlungen, die früher einmal unverfänglich waren, werden sündhaft, beinahe. Nicht zu vergessen all die sträflichen Dinge, die einem mit dem Essen passieren: Selbst die Milchtrinkerin sollte wissen, dass die Kuh ein Lebewesen mit Rechten ist, und in der (industrialisierten) Milchwirtschaft geht es der Kuh einfach auch nicht gut. Und was wäre hier eine produktive moralische Intervention? Vielleicht der Hinweis, dass es vegane Alternativen gibt. Vorsicht jedoch bei Südamerika-Soja, der könnte den moralischen Aktivisten wiederum in moralische Dilemmata stürzen, so wie den Elektroauto-Fahrer, der auch nicht einfach aus dem Schneider ist.

Ist der Veganismus eine Spielart des Moralismus?, fragt Bernd Ladwig. Eine Schädigung ihrer Mitmenschen müssten sich Veganer nur vorhalten lassen, wenn sie vorschnell und maßlos moralisch urteilten. Ihr Moralismus aber sei grundsätzlich berechtigt, denn der Verzehr von Tierprodukten „fällt in den Geltungsraum der Moral, sobald Tiere dafür leiden und/oder vorzeitig sterben müssen“.

Unter solchem Diktat leidet je nach Bildungsstand und Kaufkraft und Wohnlage der Mensch unterschiedlich. Es kann ihm Ansporn sein, öfter aber ist er überfordert, gekränkt, müde. Lange war sein Alltag eine Privatsache, und kein hypermoralischer Veganer (neben der Feministin ein beliebtes Feindbild) hatte das Recht, sich einzumischen. Nun aber nimmt sich die Moral ihr Recht, und der Kritisierte sieht seinen Individualismus oder die Wahrung der Tradition bedroht, seine Freiheit steht auf dem Spiel, er wird trotzig, resigniert. Er will nicht gendern.

Das Phänomen Moralismus mit seinen Spielarten ist komplex, und sogar die Moralphilosophie selbst mit ihrem Hang zur Pedanterie droht moralistisch zu wirken, heißt es einmal im Band, wenn etwa der Fall konstruiert wird, in dem einer beim Zähneputzen jemand anderen in Lebensgefahr bringt. Dass der Begriff abwertend verwendet wird, war aber nicht immer so. Im 18. und 19. Jahrhundert war „moralist“ laut Oxford English Dictionary noch eine neutrale (Selbst-)Bezeichnung für mit Sittenbefasste Lehrende, Studierende oder Schriftsteller-*innen sowie Moralphilosoph*innen. In der „spitzen Feder der französischen „moralistes“ und dem anklagenden Ton, in dem die „public moralists“ ihre sozialreformerischen Anliegen bisweilen vorbrachten“, sei jedoch „eine gewisse Kontinuität zur heutigen, pejorativen Verwendungsweise angelegt“.

Der Moralist hat also ein Problem. Denn er benennt Missstände zwar durchaus korrekt in der Sache, aber die Art und Weise seiner Kritik steht oft in einem falschen Verhältnis zum Gegenstand (im Fall von Karl Lauterbach enerviert schon das leicht Nölige im Ton). Und dann ist auch nicht immer klar, ob der Moralist wirklich nur von edlen Motiven getrieben ist. Die Verdachtshermeuneutik unterstellt ihm Selbstsucht und Distinktionsgewinn. Die wiederum werden sanktioniert. Und wer alles zu einer Gewissensfrage stilisiert, wird vermutlich bald nicht mehr zu Gans mit Rotkohl eingeladen.

Vor allem lebt der Moralist gefährlich, wenn er dabei erwischt wird, wie er Wein statt Wasser trinkt. Oder, wie jüngst im Fall der Hamburger Grünen-Politikerin Anna Gallina: die auf Malta nicht einschreitet, wenn am Tisch Hummer bestellt wird, und das just nach dem Besuch eines Flüchtlingsschiffs. Noch pikanter: Die „Hummer-Sause“ (Bild) wurde unsachgemäß abgerechnet. Beim Heuchler kommt sodann diebische Freude auf, weil es der „moralisch hochnäsigsten Partei, den Grünen“ (Ulf Poschardt), passiert. Ein Paradebeispiel: Gallina machte sich der Heuchelei verdächtig und die selbstgerechten Heuchler schwingen genüsslich die Moralkeule.

Der Heuchler ist streng genommen aber gar kein Moralist. Er nutzt Gelegenheiten, echte Diskurse abzuwürgen, die zu politischen Veränderungen führen könnten, zu Sanktionen, die von der Allgemeinheit getragen würden. Sanktioniert wird der Falsche: der Moralist. Im Band erwähnt werden übrigens Margot Käßmann und Christian Wulff, was niedlich erscheint, wenn man bedenkt, welche Shitstorms inzwischen durch die Welt fegten.

In Zurückhaltung üben

Leider ist keine Besserung in Sicht. Die digitale Kommunikation eignet sich sehr gut, das übertriebene Moralisieren zu befördern. „Abgesehen von konkreten Folgen für Einzelne kann verbreiteter Moralismus“, schreibt Eva Weber-Gusker, „auch populistischen Strömungen Vorschub leisten (…) und zu einer „allgemeinen Polarisierung normativer Debatten“ führen. Memo an die Moralisten und an mich: Nicht nur der Hass im Netz, sondern auch überambitionierter Online-Moralismus war in der Migrationsdebatte und ist jetzt inmitten der Pandemie kontraproduktiv. Manch ein Moralist hat hier, scheint es, zu seiner wahren Berufung gefunden, so moralisch aufgeladen ist die Einstellung zu Maßnahmen der Eindämmung. Der eine sieht Einkaufen als „patriotische Pflicht“ (Altmaier), der andere #stayathome als moralisches Muss, es sei denn, der Glühweinfan will wirklich über Leichen gehen ...

Ja, es gibt sie, die vielen Missstände. Die Krux ist ja, argumentiert Sabine Hohl, „die Moralkritik ist nicht ineffektiv, weil sie moralistisch ist, die Moralkritik ist deshalb ineffektiv, weil sie als moralistisch empfunden wird“ – wobei es durchaus moralisch falsche Handlungen gibt, die man aus moralischen Gründen dennoch nicht kritisieren sollte. Will man ernsthaft der Moral zur Durchsetzung verhelfen, sollte man sich öfter in Zurückhaltung üben, weil Kritik mitunter den noch größeren Schaden anrichtet, für Scham und Ärger sorgt. Wer für Veränderungen streitet, sollte sein Gegenüber nicht ohne Not brüskieren. Effektive Kritik wäre, wenn die Kritisierten den Forderungen der Moral freiwillig nachkämen. Ein unmoralisches Angebot, aber es sei zumindest anempfohlen: Andersdenkende nicht dämonisieren. Was auch ein Gebot politischer Klugheit wäre, will man einen breitenwirksamen Bewusstseinswandel erreichen, was ja eigentlich die Philosophie des Moralismus originär heute sein könnte. Dazu hilft auch: Statt auf andere Moralisten zu zeigen, manchmal den Moralapostel, der man ist, in sich selbst zu erkennen. Frohe Weihnachten.

Info

Kritik des Moralismus Christian Neuhäuser, Christian Seidel (Hg.) Suhrkamp 2020, 490 S., 28 €

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