Käthe Kollwitz schrieb in ihr Tagebuch im November 1919: „Wo ist die neue Form für den neuen Inhalt der letzten Jahre?“ 2019 sind die neuen und nicht so neuen Inhalte: Digitalisierung, KI, Naturkatastrophen, Kriege, IS, Überwachungstechnologie. Irgendwas vergessen? Sicher. Die Welt quillt ja über. Mit Daten, richtigem Müll und Diskursen. Die Welt ist ein Unort, Zetermordio, Reizüberflutung. Die Welt ist zu viel für unser Fassungsvermögen, unsere Art zu denken, die Möglichkeiten unserer Rezeption. Die Welt sprengt jede Form (und wir sind schuld). Wir sind überall, nirgends, leer und verstört. Nur die Farbe des Himmels bleibt unbeirrt blau an schönen Tagen, selbst an Orten der Zerstörung.
Und was ist mit der „neuen Form“, die Käthe Kollwitz forderte? Hell Yeah We Fuck Die heißt prägnant zusammengefasst eine Arbeit der Videokünstlerin Hito Steyerl von 2016. In einer Versuchsreihe wird hier ein Roboter immer wieder geschubst und getreten. Was soll man denken, wenn man den unbeschwerten Gesichtsausdruck sieht, mit dem der Nerd im weißen Kittel beherzt zutritt? Spass, Sadismus. Wie abgespalten ist der Mensch vom Menschsein? Wer spürt seinen Schmerz noch?
Und wie erklärt man all das seinen Kindern? Robots Today zeigt die kriegszerstörte Stadt Diyarbakir im Südosten der Türkei, die einmal schön gewesen sein muss. „Siri“, fragt eine Kinderstimme im Film das Smartphone, „werden Roboter entwickelt, um Menschen in Katastrophengebieten zu retten?“ Keine Antwort. „Siri, wer hat diese Stadt zerstört?“ Siri sagt nun, sie glaube, sie habe die Frage nicht richtig verstanden.
Siri, gibt uns die Künstlerin zu verstehen, hat Antworten für eine Welt, in der Gut und Böse kinderleicht zu trennen sind. Was aber wird aus uns, wenn selbst die gute Siri nicht mehr weiter weiß? Steyerl spielt aber nicht nur mit unserer Ratlosigkeit mittels einfacher Effekte, ihr Werk reicht tiefer. Die aktuelle Ausstellung anlässlich der Verleihung des Käthe-Kollwitz-Preises zeigt keine neuen Arbeiten; frühe Dokumentarfilme aus den 90er Jahren wie Babenhausen oder ein Episodenfilm aus der Reihe Normalität 1–10 wirken dafür wie ein Déjà-vu, wenn hasserfüllte Menschen gegen das Denkmal der Ermordeten Juden Europas demonstrieren.
Zuerst schießt einer
Die 1966 in München geborene Deutsch-Japanerin Hito Steyerl ist Professorin für Experimentalfilm und Video. Ist promovierte Philosophin. Lange Jahre arbeitete sie mit Wim Wenders. Ihre Werke wurden unter anderem auf der Biennale Venedig und im New Yorker Museum of Modern Art gezeigt. Der banale Flyer zur Ausstellung wirkt da fast abschreckend mit seinem Geschwurbel: Steyerls Kunst sei eine „Auseinandersetzung“ mit „postkolonialer Kritik, Machtmissbrauch, Gewalt, feministischer Repräsentationslogik sowie den Einflüssen der Globalisierung auf den Finanz-, Arbeits- und Warenmarkt“.
Begeht man die Ausstellung am geschichtsträchtigen Pariser Platz nahe dem Holocaust-Mahnmal sieht man zuerst Steyerls Videoinstallation von 2012, Abstract. „Shot – Countershot“ steht auf zwei Bildschirmen, auf Deutsch Schuss und Gegenschuss. Das spielt auf die klassische Erzählweise im Film an, mit der Spielräume für eigene Interpretationen enger werden, der Betrachter vielmehr ein formatiertes Narrativ präsentiert bekommt, etwas zwischen Gut und Böse, vielleicht eine Grauzone. Die Szene spielt in einem von Kurden und Türken umkämpften Gebiet in der Ost-Türkei, es ist eine karge und friedliche Landschaft, der Himmel ist blau. Gezeigt werden Überbleibsel einer militärischen Gefechts. Ein Augenzeuge zeigt der Künstlerin, was zu sehen ist. „This is a coat. This is a jacket. This is a pot.“ Er zeigt Patronenhülsen und irgendwann rennt er weg, so als würden nicht mal einfache Satzkonstruktionen noch Halt bieten. Der andere Bildschirm zeigt Hito Steyerl, wie sie sich die gleiche Szene, wie einen Film im Film, das Handy gegen den blauen Himmel gerichtet, anschaut. Rechts im Bild ein Banklogo und anscheinend das Büro des Waffenherstellers Lockheed Martin, der anscheinend Waffen für solche Einsätze produziert. Es wird informiert, dass bei diesem Gefecht 29 Menschen getötet wurden, darunter Steyerls Jugendfreundin Andrea Wolf, eine kurdische Befreiungskämpferin.
Es wäre simpel, in dieser Arbeit nur den gängigen Nachweis zu sehen, dass immer einer am Krieg verdient. „Die Grammatik des Kinos entspricht der Grammatik des Krieges“, hat Steyerl einmal ihr Vorbild, den verstorbenen Berliner Filmemacher Harun Farocki, zitiert. Der Kunsthistoriker Florian Ebner schreibt, dass sich gerade hier die Herangehensweise Steyerls erklärt, es gehe nämlich um die Frage nach „Zeugenschaft, die Präsenz der eigenen Person und Biografie“, auch um die „Verquickung von Krieg und Ökonomie, von moderner Technologie“, aber vor allem jedoch um die Erweiterung der Erzählung, um die „unbedingte Dekonstruktion der eigenen Mittel“. Im Zentrum ihrer Methodologie stehe die Selbstreflexion derselben. Wer Steyerl nicht nur sehen will, dem sei zur weiteren (Selbst-)Reflexion auch dieser Essay (siehe Ausstellungskatalog) empfohlen.
Info
Käthe-Kollwitz-Preis 2019. Hito Steyerl Akademie der Künste, Berlin, bis 14. April 2019
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