Der Orbán-Stil

Mentalität Warum wollen die Ungarn ihr Land nicht verändern? Lacy Kornitzer versucht eine Erklärung
Ausgabe 15/2022
Eine Frau im traditionellen ungarischen Gewand geht zur Wahl in Mogyorod nahe Budapest
Eine Frau im traditionellen ungarischen Gewand geht zur Wahl in Mogyorod nahe Budapest

Foto: Ferenc Isza/AFP/Getty Images

Man schimpft es „Mansplaining“, wenn Männer ungefragt Monologe halten, so als wüssten sie mehr über ein Thema als ihr (meist) weibliches Gegenüber. Im Ukraine-Krieg macht ein neuer Begriff die Runde, das „Westsplaining“. Gemeint ist damit die herablassende Perspektive, nach der Osteuropa nicht fähig sei, „selbst über sein Schicksal zu bestimmen“, als Objekt behandelt werde, so neulich der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch in der NZZ. Westsplaining findet sich auch in Analysen über die Enfants terribles der EU, über Polen und Ungarn, nicht aber in dem Essay Über Destruktivität. Lacy Kornitzer schreibt über sein eigenes Land, Ungarn, sein Urteil ist verheerend.

Das einzig Gute, was man über den wiedergewählten Präsidenten sagen kann, ist wohl, dass sich Viktor Orbán im Ukraine-Krieg derzeit als Vermittler geriert. Ansonsten dürfte seine Wiederwahl für den in Budapest geborenen Regisseur, Autor und Übersetzer die Bestätigung dessen sein, was er über die mentale und politische Verfasstheit Ungarns denkt: Trägheit sei die „unbewusste Philosophie“, das geringste Übel stets die erste Wahl.

Spuren europäischer Geistesgeschichte ließen sich kaum ins Land hinein verfolgen, so Kornitzer. Die Ungarn wären progressiven Ideen schon immer feindlich begegnet. Sonst hätten sie die Bedeutung des Jakobiners Ignác Martinovics gewürdigt, statt dem Hitlerverbündeten Miklós Horthy neue Ehre zu erweisen und den Tabubruch zu begrüßen. „Kein Hegel, kein Sturm und Drang, kein Büchner“. Dichter und Denker gingen in die (innere) Emigration, begingen Selbstmord, wie Graf István Széchenyi, Staatsreformer, Kritiker des Feudalsystems, oder der zeitgenössische Schriftsteller Szilárd Borbély. Oder: Sie wurden verraten, erfuhren nie Anerkennung wie der Literaturnobelpreisträger Imre Kertész. Ideen der Russischen Revolution habe man abgeschmettert, noch bevor man wissen konnte, was die politische Utopie hervorbringt. Schon immer seien Personenkult und Nepotismus vorherrschend gewesen. Der Faschismus sei nie wirklich weg gewesen. Ungarn sei ein Land ohne jegliches soziologisches Erbe, ein Land, in dem über 70 Prozent der Studenten rechts wählten.

Seit Ende des Kalten Krieges habe das Land vielmehr wieder zu sich gefunden, kämpfe mit „imperialistischen Tricks gegen den Imperialismus“. Ungarns Nationalismus, zitiert der Autor Kertész, sei nur eine flüchtige Form des universellen Hasses, Ungarns Historie, schreibt Kornitzer: „erdichtete Geschichtskonstruktionen“. Ein antikes Bühnendrama betrachteten die Ungarn unbeteiligt, ohne einen Bezug zu sich selbst zu suchen.

Der Orbán-Stil, versteht man, kann sich hier womöglich für immer manifestieren, die Ungarn waren die meiste Zeit intellektuell passiv, anfällig für Pathos, provinziell, schicksalsergeben. Orbáns Vulgärnihilismus fügt sich nur ein, stimuliert oder irritiert nicht weiter.

In der Falschheit echt

Mit Kalkül, so Kornitzer, hob Orbán das Verbot zur privaten Schnapsherstellung auf. Nur „ein kontinuierlich unter dem Einfluss von Billigalkohol lächelndes Landvolk“ würde ihn wählen. Nur dann wirke sein „delirantes Gefasel“ echt. Ungarn sei kein Land des Dramas mit Karthasis, Erkenntnis, es gleiche einer Operette, in der die EU dreist verleumdet wird, EU-Gelder nur in das „gemeine Wohl“ fließen, während drei Millionen Ungarn unterhalb der Armutsgrenze leben, vier Millionen zu viel Schnaps trinken. Ein Land, begreift man, in dem Juden ihr Jüdischsein vergessen wollen, in dem Roma Orbán wählen, nachdem Wahlhelfer tagelang Alkohol ausgeschenkt haben.

Über Destruktivität ist kein Westsplaining, keine Polemik, keine politische Analyse, jemand von „außen“ könnte das ja auch unmöglich so aufschreiben. Es sind Momentaufnahmen. Der Autor beobachtet seit neun Jahren Orbáns Politik, zeitweise sei er zu zermürbt, zu angeödet und angewidert gewesen, sodass er pausieren musste mit dem Schreiben. So liest sich das Buch. Und man leidet mit Ungarn, als Europäerin, als Mensch.

Info

Über Destruktivität. Eine essayistische Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ungarns Lacy Kornitzer edition suhrkamp 2022, 224 S., 18 €

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Geschrieben von

Katharina Schmitz

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Literatur“

Katharina Schmitz studierte Neuere Geschichte, Osteuropäische Geschichte, Politikwissenschaften, Vergleichende Literaturwissenschaften und kurz auch Germanistik und Romanistik in Bonn. Sie volontierte beim Kölner Drittsendeanbieter center tv und arbeitete hier für diverse TV-Politikformate. Es folgte ein Abstecher in die politische Kommunikation und in eine Berliner Unternehmensberatung als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Ab 2010 arbeitete sie als freie Autorin für Zeit Online, Brigitte, Berliner Zeitung und den Freitag. Ihre Kolumne „Die Helikoptermutter“ erschien bis 2019 monatlich beim Freitag. Seit 2017 ist sie hier feste Kulturredakteurin mit Schwerpunkt Literatur und Gesellschaft.

Katharina Schmitz

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