Dem Vogelkundler haftet ein liebevoll-verschrobener Ruf an. Was ist das für ein Mensch, der frühmorgens loszieht, auf Beobachtungsposten ins Unterholz geht, dort stundenlang ausharrt, um am Ende des Tages doch wieder keine Haubenmeise gesehen zu haben? Der Weltbestellerautor Jonathan Franzen ist so ein – pardon, es soll der erste und letzte Witz dieser Art sein – komischer Vogel, ein bird watcher. Am letzten Sonntag war er zu Gast im Berliner Naturkundemuseum. Veranstaltet wurde diese Matinee über Vögel vom Literaturforum im Brechthaus; ein prominenter Schriftsteller als bird watcher – verspricht das über den Gag hinaus einen Erkenntnisgewinn?
Neben Franzen auf dem Podium sitzt Andreas Meißner, er leitet das Naturschutzzentrum Ökowerk Ber
3;ner, er leitet das Naturschutzzentrum Ökowerk Berlin. Meißner wurde vor sechs Jahren von Jonathan Franzens Verlag angeheuert, quasi als sein persönlicher Vogelführer für das Berliner Umland. Seither waren die beiden auf Tour im Tegeler Fließ, in den Karower Teichen, am Liepnitzsee. Wie ist das, wenn man zusammen in der Stille sitzt und auf einen Vogel wartet? Wird daraus Freundschaft? Meißner ist an diesem Sonntagmorgen der Journalist und tut für uns so, als wolle er den Vogelfreund Franzen kennen lernen. Und Franzen tut ihm den Gefallen und erzählt in verblüffend gutem Deutsch, wie es dazu gekommen ist. Wenn sein Deutsch nicht reicht, assistiert Meißner oder fährt fort, man kennt sich eben doch. Öfter zitiert Franzen aus seinem Essay Mein Vogelproblem (er bildet die letzten 50 Seiten seiner Autobiografie Die Unruhezone). Franzen bekennt sich darin zu einer großen Leidenschaft, die für ihn ein wenig alles ist: politisch, philosophisch, ein Spleen, eine Alternative zum Schreiben, eine Therapie.„Es ist ein bisschen wie eine Religion“, sagt er, „man braucht jemanden, der einem das Licht zeigt.“ Und so fing es an. Auf einem Spaziergang durch den Central Park wurde er beiläufig auf eine Wilson-Drossel aufmerksam gemacht. Für Franzen, der bis dahin allenfalls Tauben bemerkt oder Stockenten gesehen hatte, war das eine kleine Epiphanie. Seitdem kann er zwar wochenlang problemlos kein einziges Buch lesen, nur irgendwann „kommt fast schon das physische Bedürfnis. So ist es mit den Vögeln, weil sie so schön sind. Es gibt keinen Vergleich.“ Der männliche Pappel-Waldsänger etwa hat ein blaugraues Gefieder, wunderschön allein der deutsche Name. Noch schöner, wenn man den lateinischen übersetzt: cerulean warbler heißt Himmelblausänger und als solcher kommt ihm eine Schlüsselrolle in Franzens jüngst erschienenem Roman Freedom zu.Vögel sind armBeim heimischen Central Park ist es nicht geblieben. Wie andere bird watcher ist auch Franzen in entlegene Weltgegenden gereist, um Vögel zu beobachten. Kein Problem, an einem Tag 14 Stunden auf den Steppenkiebitz zu warten. Sein nächstes Ziel: wieder einmal Australien. Und wer es noch nicht weiß, erfährt, dass es weltweit um die 10.300 Vogelarten gibt. Höchstens drei Menschen überhaupt haben 8.000 registriert, schätzt Franzen, auf seiner Liste stehen immerhin 1.500 Arten (297 hat er in diesem Jahr gesehen, aber noch keine Haubenmeise). Denn bird watching ist nicht nur Freude, sondern auch Wettbewerb. Auch für Jonathan Franzen.Aber was bedeuten die Vögel nun für seinen Hauptberuf? „Sie sind sehr arm. Man kann nicht ärmer sein als ein Vogel. Als Schriftsteller ist es wichtig, immer in Verbindung mit der Armut des Menschen zu sein, ich meine die seelische Armut.“ Und die Würde der Armut. Die Haubenlerche sieht nicht nur aus wie ein Franziskanermönch, sagt Franzen, ihre Lebensweise entspricht auch einem Franz von Assisi. Im evolutionären Kontext sind die Vögel „das bessere Ich des Dinosauriers“. Die Mehrheitsgesellschaft in Gestalt von Tauben oder Möwen interessiert ihn dabei nicht, vielmehr sind es die Außenseiter, die Unangepassten, die ihn faszinieren. „Ich sehe mich selbst in den Vögeln, besonders in den kleinen braunen.“Nun ist Franzen nicht nur ein bedeutender Romancier; was man vielleicht weniger weiß – er ist auch ein engagierter Journalist. Für den New Yorker reiste er ans Mittelmeer. Auf Zypern zum Beispiel ist der illegale Vogelfang mit Leimruten und riesengroßen Fangnetzen verbreitet. Besonders perfide: Im Wald sind Rekorder mit Vogelstimmen aufgestellt. So werden in einer Nacht über 1.000 Singvögel gefangen und diskret in den abgetrennten Nebenräumen von Gasthäusern verspeist. Zusammen mit Aktivisten hat Franzen versucht, Vögel aus diesen Fallen zu befreien. In Italien hat er Wilderer in Gespräche verwickelt. Es ist ihm schwer gefallen, diese Menschen nicht zu mögen. Sie argumentierten, dass sie das immer so gemacht haben und dass die Vögel gut schmeckten. Was leider stimmt. Einmal hat Franzen schließlich eine Mönchsgrasmücke gegessen. Sie mundete vorzüglich.Die VogelphilosophieDer Verrat an der guten Sache ist auch Thema in seinem letzten Roman. In Freedom kämpft Walter Berglund fanatisch für die Rettung des bedrohten cerulean warbler und schreckt dabei vor einem Deal mit der Kohleindustrie nicht zurück. Auch das eine Frage an den Schriftsteller: Macht Idealismus blind? Natürlich ist der Einsatz für den Naturschutz mit einem moralischen Konflikt verbunden, sagt Franzen. Für die USA gilt das noch viel mehr als in Deutschland. Was kann man schon demokratisch bewirken in einem Land, in dem sich keine zehn Prozent der Bevölkerung für Umweltschutz interessieren. Sein Gesprächspartner an diesem Sonntag kennt die Dilemmata. Schließlich, sagt Meißner, nehme das Ökowerk Spenden an, auch von Konzernen wie der Gasag.Man hört es mit Andacht: Die Zuhörer in diesem altehrwürdigen, prallvollen Hörsaal, passen sich dem Ambiente an, als säße man in der Feuerzangenbowle. Einer ruft, „ja doch, der Dativ ist hier richtig“, und Franzen freut sich diebisch. Man trägt Cord und Strick, ist wetterfest gekleidet, die Sorte Mensch, die Natur und Buch liebt.Dann ist die ornithologische Lehrstunde des Jonathan Franzen zu Ende. Was bleibt? Das Bild vom Vogel als einem bedrohten Wesen. Bedroht mehr noch als durch den Fang von der Agrarindustrie, nur darum allein geht es nicht. Sondern auch um Vogelphilosophie: Das Schöne erscheint selten, man muss warten können. Draußen ist Herbst, am liebsten will man gleich los, nach einer Haubenmeise Ausschau halten. Franzen sagt, im Grunewald hätte er mal welche gesehen.
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