Die Stimmung „wird gekippt“, schrieb Spiegel-Kolumnist Georg Diez neulich maliziös. Gemeint ist der leichte Zurückgewinn von Macht, den die Medien der Flüchtlingskrise verdanken. Ganz falsch ist das nicht. Wir lesen gefühlt x Reportagen über den syrischen Studenten, der in einem deutschen Klavierzimmer unterkam und – das Bettzeug akkurat gefaltet – am nächsten Tag die Wohnung in Berlin oder München verließ, Berichte über Massenschlägereien, über Orbán und sein Ungarn, Häme und Applaus für die deutsche Willkommenskultur. Dauernd ändert sich etwas, vor allem die Stimmung.
Für die Verlage ist das nicht einfach. Ihre Sachbuch-Programme haben nun einmal eine längere Vorlaufzeit als ein Zeitungsartikel. Jetzt werden die Titel geplant, die frühestens nächstes Jahr erscheinen. Man muss kein Prophet sein, um zu sagen, dass wir 2016 viele Bücher zu Flucht und Migration lesen werden. Wer einen E-Book-Verlag hat, kann schneller reagieren. Bei Hanser hatte man die gute Idee, (origineller als rasch noch einen angestaubten Titel zum Thema aus der Schublade zu ziehen), den deutschen Blick für einmal kurz zu verschleiern und auf die aktuelle Situation und ihre (hausgemachte) Genese in Österreich zu lenken. Geschickt ist das, wir denken einmal nicht an Deutschland, und Österreich ist uns nah, schon sprachlich, aber eben nicht nur.
Angst vor dem Ansturm – Faktencheck Asyl heißt das E-Book, das in der Hanser Box für einige Tage zum Gratis-Download zur Verfügung stand. Der Text ist klug als bloße Momentaufnahme deklariert. Angetrieben von Politikern und Boulevardmedien gebe es eine Welle des Hasses durch soziale Medien. Gleichzeitig formiere sich eine Front der Solidarität. Autor Simon Hadler hat Fakten über Asyl und Wege der Integration zusammengetragen, er erzählt von Schicksalen, es sind „Grundlagen für die laufende Diskussion“. Hadler studierte Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Migration. Für seine Reportagen wurde der Journalist mehrfach ausgezeichnet. Hadler lebt in Wien, seine Familie hat eine Syrerin und ihr Baby aufgenommen. Der Autor verfügt also über „Credibility“ in der Flüchtlingsfrage.
Im Stile von alle mal kurz Luft holen, stellt er zunächst fest, was wir wissen: dass sich die Flüchtlingsströme nicht erst seit Sommer in Richtung Europa bewegen, nur 2014 sei das Thema einfach erst in Europa angekommen. Österreich habe konkrete Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention. Seit 2004 gibt es einen Schlüssel für die Aufnahme von Asylbewerbern in Österreich. Doch die Länder hätten sich immer wieder quergelegt. Das Kalkül: Hauptsache, die Leute wählen nicht die FPÖ. Kommt einem bekannt vor ...
Und dann kam Traiskirchen, ein humanitärer Notstand, obwohl in der Nachbarschaft zwei Pflegeheime leer standen. Es fehlt Strom, die Leute frieren in den Zelten, es wird gestohlen. Erst ein Bericht von Amnesty International führt dazu, dass es mobile Ärzteteams gibt, sich die Wartezeiten bei der Essenausgabe verkürzten, auch für das Taschengeld von monatlich 40 Euro.
Hetzer im Netz
Hadler darf sich ein paar Stunden in Traiskirchen aufhalten – in Begleitung des Security-Chefs. Ein Junge namens Hussein führt ihn durchs Lager. Es entbrennt ein Streit über Turnschuhe, einer sagt: „Du willst kämpfen, kein Problem, ich töte dich innerhalb von zwei Minuten.“ Hadler ermahnt sich und uns, dass Asyl ein Grundrecht nicht nur für jene ist, die man für liebe Menschen hält. Er spricht mit einem Mann aus Aleppo, der seine Familie auf sicherem Weg nachkommen lassen will. Auf Facebook werden die Männer, die alleine flüchten, als „feige Dreckschweine“ bezeichnet. Ein neuer Streit: Eine Gruppe Afghanen schimpft, warum eine Röntgenuntersuchung für die Altersbestimmung so lange dauere. Der Journalist beruhigt die Männer. Sie sagen: „Mit uns redet ja keiner.“
Hadler greift die Hetzer im Netz an, aber ebenso, und das ist wichtig, kriegen die allzu Selbstgewissen ihr Fett weg. „Österreich als Naziland abzustempeln, mag ein paar Likes auf Facebook bringen, trägt aber nichts zur Verbesserung der Lage bei.“ Er mahnt, dass Boulevard und soziale Medien die Stimmung dramatisch beeinflussen, schon wegen des multiplikatorischen Effekts. So berichtete die Kronenzeitung von randalierenden Asylbewerbern, denen das Essen angeblich nicht geschmeckt habe, was die Polizei später so nicht bestätigen wird.
Trotzdem sind es Artikel, die auf Facebook zigtausende Male gelikt werden. Brandbeschleunigend auch die multiplikatorische Wirkung von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache. Seiner Seite folgen etwa 240.000 Menschen (zum Vergleich: das Nachrichtenmagazin Profil hat eine Auflage von rund 72.000). Die Kronenzeitung berichtete noch einmal über das Zeltlager im oberösterreichischen Linz: „Stimmung im Zeltlager ist am Kippen.“ Ein Befund, den man gerade auch in Deutschland lesen kann. Vermutlich nicht zum letzten Mal.
Info
Angst vor dem Ansturm – Faktencheck Asyl Simon Hadler Hanser Box, Kindle 2,99 €
Über die Bilder der Beilage
invisible photographer asia wählte ihn unter die 30 einflussreichsten Fotografen Asiens: Erik Prasetya. Geboren 1958 in Padang, einer Hafenstadt in der indonesischen Provinz West- Sumatra, arbeitet Prasetya nach einem Technikstudium zuerst in der Ölbranche, dann als Reporter. Er stellt fest, das Schreiben ist nicht seine Stärke – dafür die Fotografie! Seit über 20 Jahren dokumentiert er nun schon das Stadtleben der Hauptstadt Jakarta. Die meisten Fotografen zelebrierten eine Mittelklasse-Ästhetik zwischen Voyeurismus, Romantik, sogar Exotik, schreibt Prasetya einmal. Eine Ästhetik, die man überwinden müsse, um die „Wahrheit“ zu finden. Das Bildessay JAKARTA: estetika banal versammelt Aufnahmen in schwarz-weiß von 1990 bis 2010. Jakarta sei seit den Reformen eine andere Stadt, sagt Prasetya in einem Interview, der Verkehr sei natürlich immer noch schrecklich.
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