Proletarier unter sich

Erziehung Der Beutezug ihres Sohnes stimmt unsere Kolumnistin nachdenklich. Doch die eigene Erfahrung lehrt sie, nicht zu moralisch zu werden
Ausgabe 40/2019
Die richtig fiesen Süßigkeiten
Die richtig fiesen Süßigkeiten

Foto: Jochen Tack/imago

Die kriminelle Energie vom Kind in „richtige“ Bahnen zu lenken, das ist eine kurvige Fahrt. Je näher man dran ist am Kind, desto schneller gerät die Helikoptermutter ins Schlingern, verirrt sich in Konflikten und Grundsatzfragen. Was heißt überhaupt „richtig“ in diesen moralisch so schwierigen Zeiten? Da fängt es schon an, da wanken ja schon die grundgewissen Grundfesten grundnormaler Leute, sind kurz vorm Einstürzen.

So spazierten wir neulich zu einem gallischen Dorf, es handelte sich um eine dieser übrig gebliebenen Künstleratelierzeilen in einem dieser bitterst umkämpften Kieze der Stadt. Die befreundete Künstlerin hatte zusammen mit den Mitstreitern in einem beispielhaften Häuserkampf erwirkt, dass sie bleiben dürfen auf der Brache, die jetzt zwar keine inspirierende Brache mehr ist. Die Künstler sind vielmehr eingekeilt in einen Apartmentkompromiss, der in seiner letzten Bauphase steht, und man will sich lieber nicht ausmalen, wer dort einzieht; aber immerhin sind die ehemals heruntergekommenen Ateliers saniert und vielleicht kaufen die vermutlich solventen neuen Bewohner*innen aus aller Herren Länder der Welt die Kunst.

Wir spazierten also mit unseren Jungs an der Schwelle zum „schwierigen Alter“ vorbei an Supermärkten, natürlich war auch ein gentrifizierungskompatibler Denn’s-Biomarkt darunter, aber dort gibt es ja noch nicht einmal die richtig fiesen Süßigkeiten, die Jungs um alles in der Welt haben wollen. Und so stürzten sie abenteuerlustig in den letzten Netto der Gegend, die Erwachsenen spazierten derweilen vertieft in routiniert gesellschaftskritisches Geplauder weiter, diesmal ging es um die Frage, ob man die „Fridays for Future“-Proteste umstandslos gut zu finden habe. Im Vagen blieb daher, ob die Jungs ihr Taschengeld eingesetzt hatten für die 1,5-Liter-Limo, die sie gerade raustrugen, und die Gummibärchen, die sie dreist in der Hosentasche hatten verschwinden lassen, die Rede vom „Klauen“ war schließlich nicht zu überhören. Wollten wir es so genau wissen? Sodass wir die Kinder hätten zur Rede stellen müssen? Nein.

Ich selbst habe als Kind mit dem Einstehen für meine Tat keine gute Erfahrung gemacht. Ich hatte eine Geldbörse auf der Straße gefunden. Mit 20 Mark drin! Hatte das Geld behalten, jedoch das Portemonnaie zum Fundbüro gebracht, damit der Besitzer nicht alle seine Papiere neu beantragen musste – und wegen des schlechten Gewissens. Eindringlich hatte man die „ehrliche“ Finderin gefragt, ob wirklich kein Bargeld drin gewesen wäre. Glühende Wangen. Katholisch sozialisiert lastete das schlechte Gewissen schwer, ich beichtete den Diebstahl dem Pfarrer. Dem fiel nichts Besseres ein, als zu fragen, wie man das Geld noch zurückgeben könne. Amen. Dieser Pfarrer ist schuld, dass ich bis heute denke: „Der Ehrliche ist der Dumme.“

Nun haben kluge Leute schon immer die Ansicht vertreten, dass es schon drauf ankommt, wen man beklaut, wenn man denn schon klaut. Man klaut natürlich nicht von Leuten, die auch nichts haben! Ich würde hinzufügen: Es kommt nicht nur darauf an, wer beklaut wird, sondern auch, wo geklaut wird.

Zurück zu unserem Spaziergang. Mutter P. erzählte, sie habe jüngst ihr Erbe (mehrere Mietshäuser) in Süddeutschland ausgeschlagen, sie sei jetzt eine echte arme Proletarierin. Ich schaute mich um. Der Bärchenklau schien mir plötzlich in einem einwandfreien und edlen Kontext zu stehen.

Katharina Schmitz schreibt im Freitag als Die Helikoptermutter über die Unzulänglichkeiten des Familienlebens

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