Zusammen mit dem Schriftsteller Michael Ebmeyer hat Annalena Baerbock ihr Buch geschrieben, es basiert auf Gesprächen, die beide Anfang des Jahres führten. Wie die meisten Politikerbücher, die im Vorfeld von Wahlen gewissermaßen an das Volk gerichtete Bewerbungsschreiben sind, ist dieses Buch grundsolide geraten. Für die erste Kanzlerkandidatin in der Geschichte der Grünen, die mit ihrer Partei ziemlich ernst machen will, vor allem mit der ökologischen Transformation des Landes, muss die Arbeit an diesem Buch sogar noch mehr die Quadratur des Kreises gewesen sein, muss sich Baerbock doch einer sogenannten Mehrheitsgesellschaft als „sozialverträgliche“ Kandidatin präsentieren. In dieses Quadrat müssen Milieus, Regionen, Branchen rein, die dieser Transformation mit Skepsis entgegensehen. Zuallererst also der Osten, wo die Grünen keinen Fuß fassen, dann die „Kohlekumpel“, die ganze alte Industrie. Baerbock muss Stadt, Land, Hartz-IV-Empfänger, Frau, Mann adressieren und tunlichst das Genderthema nicht überstrapazieren. Und selbstverständlich wollen ihre Kritiker die Skepsis nähren, grüne Verbote finden. Fündig wird man nicht, es gibt keine programmatischen Überraschungen.
Interessant sind naturgemäß die Passagen, in denen die grüne Kanzlerkandidatin ihre Anliegen und ihre Motivation mit ihrer Biografie verknüpft, man Persönliches erfährt. Baerbock kann hier Geschichts- oder Klassenbewusstsein zeigen, wenn sie etwa von den Großeltern erzählt, die aus Oberschlesien nach Niedersachsen kamen. Die Oma putzte in einer Sparkasse, mit einem gewissen Stolz, denn sie war nicht „outgesourct“. Die Oma inspirierte sie dazu, Völkerrecht zu studieren. Oder: Sie reklamiert ihre Bodenständigkeit, weiß als Dorfkind nur zu gut, dass man ohne Auto aufgeschmissen ist. Von ihrem Vater hat sie gelernt, Autoreifen zu wechseln. Wie wichtig ein gutes Gesundheitssystem ist, hat Baerbock nicht erst in der Pandemie erkannt – eine ihrer Töchter war an Corona erkrankt –, als Studentin in London, wo „Margaret Thatcher 1979 begonnen hatte, den Sozialstaat zu schreddern“, erkrankte sie an einer Nierenbeckenentzündung, der Krankenwagen brauchte Stunden. Um gern genommenen Missverständnissen vorzubeugen, beschreibt sie den Werdegang der Grünen, die nach ihr heute die „engagiertesten Verfassungspatriot*innen“ sind. Und 2018, in Chemnitz, war sie „erstmals froh, als eine Hundertschaft von komplett vermummten Polizist*innen auf uns zu rannte, um uns Demonstrant*innen (...) gegen gewaltbereite Pegida-Anhänger*innen zu schützen“.
Staatstragende Stellen
Nicht ohne erzählerischen Reiz (hier führte vielleicht Ebmeyer die Feder, vielleicht auch nicht) berichtet Baerbock von ihrer Berliner Wohnung am Rosenthaler Platz, von der Gentrifizierung des Viertels, vom Ochsenblut-Dielenboden, den sie und ihr Mann mühevoll abgeschliffen haben, von der legendären Hausfassade in der Brunnenstraße 10, an der die großen Lettern prangen „Dieses Haus stand früher in einem anderen Land“. Ein Foto der Fassade hängt nun in ihrer Potsdamer Wohnung: „Was mich berührt, ist, erinnert zu werden, dass wir in einem Land leben, in dem Menschen vor gar nicht so langer Zeit unter widrigen Bedingungen ihre Zukunft in die Hand genommen und eine friedliche Revolution für demokratische Freiheit in Gang gesetzt haben.“ Dass sie Kanzlerin können will, davon zeugen solch staatstragende Stellen.
Wie wichtig nicht nur Bildung, sondern speziell der zweite Bildungsweg ist, veranschaulicht Baerbock am Beispiel ihrer Mutter, die spät ihr Studium in Sozialpädagogik abschloss. Gelungen und „authentisch“: der Sportexkurs. Das sind keine Worthülsen, die an die immense Bedeutung des Breitensports appellieren, die verhinderte Profi-Trampolinspringerin und begeisterte Fußballerin schildert recht eindrücklich, was Sport alles zu leisten vermag. Ihr „Goldener Plan“ überzeugt: „Dieses Vertrauen auf die eigene Kraft. Sport reizt mich bis heute in seiner ganzen Vielfalt. Auch in seinen Extremen und Widersprüchen.“
Info
Jetzt: Wie wir unser Land erneuern Annalena Baerbock Ullstein 2021. 240 S., 24 €
Kommentare 13
Die in der Besprechung untergebrachten Bio-Details machen Frau Baerbock allemal sympathisch – keine Frage. Persönlich denke ich dazu, dass komplettierende Unvollkommenheiten – wie etwa der Umstand, dass sie nun mal nicht die zündenste Redenschwingerin ist – durchaus auch ein Teil dieses positiven Bilds sind. Frei nach dem Motto: Hüte dich vor den Überperfekten.
Die Grundfrage im Herbst ist schlichterer Natur. Aus linkssozialer Warte lautet sie simpel: Kann man der auf gemäßigten Sozialausgleich fokussierten Programmatik der Grünen trauen oder nicht? Gegenbeispiele gibt’s ja leider nicht zu knapp. Das Berüchtigste derzeit ist wohl die auf möglichst geschmeidiges Mitregieren abgestellte Regierungsbeteiligung der Hessen-Grünen – der Dani ächzt, und die in den NSU-Komplex involvierten Beamten können weiter beruhigt ihrem Tagewerk nachgehen. Die Frage der Fragen ist so: Wird das mit Armin Laschet letztlich nach demselben Schema laufen?
Die Frage ist am Ende so nicht die Sympathie – respektive die biografisch-menschlichen Parameter einer bestimmten Person (obwohl die – siehe an der Stelle Gegenbeispiele wie etwa Friedrich Merz oder auch Armin Laschet – durchaus auf das Setzen politischer Prioritäten sowie konkrete Entscheidungen Auswirkungen haben können). Ungeachtet des Buchs (das letztlich nicht viel anders sein wird als der Rest der obligatorischen Politiker-Buchpublikationen) wird die Grundfrage im September lauten: Sind die Grünen für Wähler:innen links der Mitte und weiter links eine belastbare Brücke, über die man gehen kann? Oder eben nicht?
Ein Buch kann bei solchen Entscheidungen ein klein wenig mehr Background liefern. Entscheidend ist es jedoch mit Sicherheit nicht.
69% sind laut Spiegel-Umfrage gegen eine Kanzlerin Baerbock. Das scheint mir eine doch recht hohe Zahl zu sein. Aber beim ersten Versuch klappt ja so manches im Leben nicht. Insofern dient diese Kandidatur vielleicht erstmal dazu, die Deutschen an den Gedanken zu gewöhnen, dass es eines Tages eine grüne Kanzlerin geben könnte. Vielleicht dann sogar jemand aus den anderen Gruppen von LGBTQIA? Und 70% fänden das dann völlig normal und wenig aufregend? Dürfte allerdings in sehr ferner Zukunft liegen.
Mich würden ja mal die realen(!) Verkaufszahlen von dem Buch interessieren. Also wieviele Menschen (nicht Institutionen, Journalisten...) sich das Buch gekauft und es dann auch GELESEN haben ?
besonders gefällt mir, dass die russenfeindschaft, mit der vergewaltigung der großmutter eine implizierte begründung erführ. wenn doch russen (und juden, israelis, franzosen, griechen) mal aufrechnen würden, was die deutschen im wk 2 so angestellt haben .... dann müsste man die brd politisch isolieren... nicht anzufangen von der kolonialmacht deutschland.
Eine fundiertere Kritik hier: https://www.nachdenkseiten.de/?p=73405PS Annalena möchte H4 behalten. Sehr lustig auch die gentrifizierungsbetroffene Annalena, klar als MDP, Grünenvorsitzende kann man sich die hohen Berliner Mieten gar nicht leisten. Annalena ist einfach nur peinlich- eine Eigenschaft, die PolitikerInnen sehr sehr oft auszeichnet. Am besten gefällt mir allerdings ihre großkotzige Art des Selbstvertrauens, resp. Selbstüberschätzung, ihr e sich selbst bescheinigende Genialität, die alle Kobolde, Stromspeichermedien überlebt. Die Dame hat nicht mal die Eigenschaft der Selbstkritik, wie viele ihres Berufstandes es eben nicht haben.
Warum wollen die Grünen eigentlich kein H4, was die Massgaben öko und fair berücksichtigt? Das kann ja nur bedeuten, dass Ökologie, Ausbeutung keine Rolle spielen. Ja, sogar gut sind, wenn sie H4 so niedrig wie möglich halten.
Die große Kanzlerinnenode von Annalena zeigt aber, dass sie der CDU in den Arsch kriecht, entsprechend angepasst, also geschwärzt das verabschiedete Wahlprogramm der Grünen. Als brave Schülerin des WEF weiss sie sicher, dass ihr GrünRotRot einen Karriereknick bescheren wird.
"„Was mich berührt, ist, erinnert zu werden, dass wir in einem Land leben, in dem Menschen vor gar nicht so langer Zeit unter widrigen Bedingungen ihre Zukunft in die Hand genommen und eine friedliche Revolution für demokratische Freiheit in Gang gesetzt haben.“"
Das sind Sätze, die unterschiedslos auch von Angela Merkel, Saskia Esken, Lydia Hüskens oder von "Vollende die Wende!"-Alice Weidel gesagt worden sein könnten. Wenn ich nicht längst so ernüchtert und stoisch geworden wäre, würde mich das noch aufregen und ich würde fragen: Warum berührt euch nicht auch das Leben der Leute VOR "vor gar nicht langer Zeit"? Es war echtes Leben unter ganz spezifischen, aber letztlich doch normalen "widrigen Bedingungen", so wie das Leben der Leute NACH "vor gar nicht langer Zeit", unter nun etwas (!) andersartigen "widrigen Bedingungen" weitergegangen ist. Von wegen "ihre Zukunft in die Hand genommen".
die junge frau um die 40 hat leider gar keine erfahrungen auf zb dem arbeitsmarkt. daher musste der lebenslauf auch gepimpt werden, denn außer lauschigen parteijobs, gab es nur den schülerinnenjob in einer bäckerei, der nach der disco verrichtet werden konnte.
"Dass sie Kanzlerin können will, davon zeugen solch staatstragende Stellen."
Das ist ein Satz von zarter Schönheit. Allerdings ist der Baerbock-Satz eben auch ein staatstragend wollender Satz. Und kein staatstragend könnender!
Von den 70%(!), die Baerbock eher nicht als Kanzlerin sehen, dürften viele, viele (nicht nur ältere) Ostdeutsche sein. Und keinesfalls nur AfDler u.ä.
Aber klar ist natürlich, dass eine deutsche Vereinigung, die den Namen auch verdient, also auf Augenhöhe, nicht mehr zu haben sein wird.
Ich wollte ja Westdeutschen doch nochmal vorschlagen, ihre Revolution nun endlich mal nachzuholen. Bin gespannt.
Anders als bei Annalena Beerbock braucht man sich bei Armin Laschet, Jens Spahn, Friedrich Merz, Olaf Scholz und dem Rest der Lichtgestalten drumrum in Sachen Professionalität keine Sorgen zu machen – politische Erfahrung gebündelt, sozusagen graumeliert, und komplettiert mit einer Sorte von Netzwerken, von denen der politische Newbie allerhöchstens mal den Hauch einer Ahnung haben dürfte.
Ich will gar nicht mal so darauf rumreiten, dass die Sorte Professionalität, auf die Berger in seinem Verriß so insistiert, exakt die Sorte ist, welche die Welt an den Punkt gebracht hat, an dem sie derzeit steht. Ebensowenig will ich eine Verteidigungsrede für Baerbock schwingen – der Profischreiber von den NDS hat die schon recht punktgenau eingefangen. Auf was ich hinauswill ist, dass es um Erfahrung oder Nicht-Erfahrung im Herbst nicht geht (als Keule, um die Parteien links der Mitte zu deckeln – sicher, aber das ist nicht der Inhalt der Richtungsentscheidung, die ansteht). Die Frage läuft letztendlich auf den Punkt hinaus, ob die bildungsbürgerlich-urbanen Mittelklassen Gelegenheit erhalten, eine auf sozialen Ausgleich und Klimaziele maßgeblich oder stark partizipierend mitzugestalten – eine Politik, für die als Gesicht Annalena Baerbock steht. Oder ob die alten Eliten in Geldwirtschaft, Industriewirtschaft und Staatsbürokratie weiter allein bestimmen, wo es längs geht – eine Politik, für die die Union in ihrer Not nunmehr das größte Windfähnlein aufgestellt hat, das sich zur Verfügung gestellt hat: Armin Laschet.
Für Argumente, dass da mehr zu Wahl stehen soll (nicht als Wünsch-dir-was-Veranstaltung, sondern real), bin ich gerne offen. Ich sehe nur weit und breit keinen Punkt. Lediglich gewisse Parallelen zu dem »Schulz-Zug« 2017 – wobei die 2021er-Kampagne der parteiübergreifenden Besitzstandswahrer die Grünen – anders als den SPD-Kandidaten Martin Schulz 2017 – bislang noch nicht dazu gebracht hat, 90 Prozent der eigenen Thematik in vorauseilendem Gehorsam in die Tonne zu stecken.
Was WIR (hier) denken, wollen und meinen, ist dabei nicht von Belang. Die Musik spielt aktuell an den Orten, an denen die Ambitionen der Grünen auf Null eingedampft werden sollen. Um das wird es in der Wahl gehen. Und um sonst nichts.
Wenn dieses Buch für den öffentlichen Eintritt einer Neuverpflichtung auf dem Spielfeld steht, sollte man eigentlich keine Probleme damit haben.
Wenn dieses Buch die bewusste Annäherung an tradierte bundesdeutsche Denk- und Gefühlswelten darstellt, die vorzugsweise von den C-Parteien bedient werden, sollte man es ernster nehmen.
Ich persönlich halte die mediale Konzentration auf eine einzelne Person ein Stückweit für kindisch, die Tragweite und der Tiefgang der anstehenden sozioökonomischen und ökologischen Transformation braucht strukturell und personell kooperative Konstellationen durch ein Führungsteam, bei der/die Kanzler(in) nur eine unter vielen Personen sein kann. Das Gesicht zur Gesellschaft, sozusagen.
An diesen Punkten: konkrete Schritte, adaptive Strukturen zu Durchsetzung, Identifikation von Akteuren, innovative Kostenträger, etc., ist noch sehr viel Arbeit bei allen politischen Parteien zu leisten.
Meiner Ansicht nach gewinnt hier langfristig nur der/diejenige, die die konkretesten Szenarien zur Realisierbarkeit vorstellen kann.
Sagen, was mann/frau tut. Tun, was mann/frau sagt.
Und: WER tut es, Wann, Wie und Wo?
Wissenschaften und Planer, die internationale Debatte, weite Teile der deutschen Öffentlichkeit, inklusive einiger Privatunternehmen, sind viel weiter, als unsere Abgeordneten im Bundestag auch nur zu ahnen scheinen.
Sie wissen nicht, was sie nicht wissen.
In Zeitlupe vor dem Aktenschrank.
https://www.youtube.com/watch?v=0woPde7OE1k
Zootopia - Happy Weekend.
Der Unterschied zwischen Armin und Annalena besteht bloss in der Klimapolitik. Bei Annalena werden mir als arme Person die Kosten aufgehalst, während man mit der Industrie solidarisch ist (siehe Rede der Bärböckin auf dem Industrietag). Ich wähle weder Armin noch Annalena. Ich tue für das Klima, was ich kann, dazu brauche ich die Bärböckin nicht und schon gar nicht aufgehalste Kosten, damit es der Industrie weiterhin noch goldiger geht.
Industrie und Rüstung noch goldiger gehen...