Schon wieder eine besorgniserregende Bildungsstudie, deren Ergebnis einige Medien wichtig genug für eine Titelschlagzeile erachteten. Es folgten darauf die schon so oft geschlussfolgerten Schlussfolgerungen und erwartungsgemäß die Forderung nach neuen Bildungsinvestitionen für noch brandaktuellere Bildungsprogramme. Wer hier die mitunter unpopuläre These vertritt, dass Geld nicht die Lösung aller Bildungsprobleme ist, kriegt schnell den Katzentisch im Lehrerzimmer zugewiesen, wo man nachsitzt und als Denkhilfe von den lieben Kollegen weitere 70.000 Links und Schwarzweißkopien zu empirischen Daten der letzten Schuljahre bekommt.
Aus Rücksichtnahme auf die geringe Aufmerksamkeitsspanne vieler erwachsener Leser:innen (denen es ja nicht anders geht als x-Prozent der Schüler:innen weltweit) eine kurze Zusammenfassung: Nicht Pisa, sondern eine Studie mit dem pompösen Namen Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) zur Lesekompetenz deutscher Viertklässler aus dem Jahr 2021 hat kürzlich gezeigt, dass jedes vierte Kind gravierende Probleme beim Lesen zeigt. Die bekannte Schlussfolgerung klingt teilweise so überraschend wie der Lottozettel, den man jetzt mit den Zahlen vergleicht: In Deutschland entscheide nach wie vor die soziale Herkunft über den „Bildungserfolg“ von Kindern.
Geringe Aufmerksamkeitsspanne
„Bildungserfolg“ – ein seltsam unzeitgemäßes Wort eigentlich, wie aus einem fossilen Management-Handbuch, eventuell sollte man diesen Begriff gelegentlich neu definieren, aber die Autorin schweift ab, wie ein Viertklässler, der gerade ein paar Zeilen gelesen und schon wieder vergessen hat, was er gerade gelesen hat. Das Problem des Viertklässlers ist gerade, dass er seit vier Stunden nicht auf TikTok war, aber das sieht die Lehrerin nicht, also zurück zu den Erwachsenen, die überlegen, was dem Viertklässler fehlt.
Sein sozialer Hintergrund ist prekär, das ist nicht gut, weniger Beachtung findet etwa sein ausgeschaltetes Smartphone, das ihm gerade in der Schule wie ein Körperteil fehlt. Die Kinderbuchautorin Kirsten Boie forderte jedenfalls direkt aus der Literaturwerkstatt überraschend unprosaisch: „Wir brauchen ein Sondervermögen Bildung“. Liegt hier schon ein Denkfehler, für den jetzt keine Zeit ist? Weil: Warum eigentlich soll Lesen bilden? Warum darf Lesen nicht die reinste Zeitverschwendung sein?
Wiederum mit Rücksicht auf die Aufmerksamkeitsspanne oder dem vielleicht nicht sehr ausgeprägten Interesse vieler Leser daran, dass in einem der reichsten Länder der Welt viele Kinder gerade noch eine WhatsApp schreiben, lesen und in ihrem Sinn erfassen können, kurz zu den Details der Studie – dass sie aus 2021 stammt, ist schon deprimierend genug. Denn dafür, dass die Studie nichts Neues bietet, erscheinen zwei Jahre für die Auswertung so lang wie einem Viertklässler der Blockunterricht in Deutsch. Die Details wurden aus Zeitgründen grob diesem Bericht der Tagesschau entnommen, womit gleich mitillustriert ist, wie Schüler:innen heute Wissen akkumulieren, nämlich durch ein paar Klicks im Internet.
Anyway, laut Studie erreichten die Studienteilnehmer:innen eine mittlere „Lesekompetenz“ im internationalen Vergleich. Studienleiterin McElvany von der TU Dortmund erläuterte dazu, dass Kinder aus „sozial privilegierten“ Familien gegenüber weniger privilegierten Familien „Kompetenzvorsprünge“ (auch so ein Wort) hätten. Ihr Fazit: Es habe sich seit 20 Jahren nichts geändert. Was stimmt. Wo ihr Fazit nicht zutrifft: Die deutsche Schülerschaft ist in den letzten 20 Jahren sehr heterogen geworden, zudem liegen zwei Jahre Corona-Pandemie hinter uns. Die Corona-Pandemie ist ein entscheidender Einflussfaktor, der jetzt in der Aufregung pflichtschuldig mitbedacht wird. Wie sehr aber die Aufmerksamkeitsspanne, die Fähigkeit sich zu konzentrieren abgenommen hat, nicht erst seit Corona, sondern seit Jahren im digitalen Zeitalter, das wird zwar mitbedacht, jedoch nicht als einer der entscheidenden Einflussfaktoren berücksichtigt. Geld jedenfalls ist hier keine Lösung.
Teilgenommen an der Studie hatten rund 4600 Schüler:innen aus 252 Klassen in Deutschland, rund 400.000 Schüler:innen aus 65 Staaten und Regionen. Die Kinder mussten jeweils Verständnisaufgaben zu Sach- und Literaturtexten am Computer (!) lösen. Wie sehr Lesen und echtes Schreiben, also mit der Hand, kognitiv zusammen hängen, auch das kann hier nur angerissen werden, ist aber auch hinlänglich erforscht. Den Spitzenplatz belegte Singapur und Länder wie Slowenien und Russland sollen stark aufgeholt haben, in „Deutschland, den Niederlanden und Schweden“ zeige sich hingegen eine problematische Entwicklung, so die Berliner Zeitung über den Bericht.
Bildungsungerechtigkeit und Bildungsmentalität
Nun zum spannenden Teil, warum unsereins schnell im Lehrerzimmer am Katzentisch sitzt, zu der unpopulären These: Weil das Narrativ „Herkunft entscheidet über Bildung“ nicht rot angemarkert werden soll, scheuen Experten vielleicht die Fragezeichen? Will man ungern darüber nachdenken, was Länder wie Slowenien, Russland, Singapur anders machen? Würde man eventuell thematisieren müssen, dass die Ursachen für die besorgniserregende Lesekompetenz unserer Kinder vielleicht noch woanders liegen? Zum Beispiel an einer anderen, Vorsicht Klischee, „Bildungsmentalität“? Und weil diese Mentalität nicht so bullerbümässig sympathisch ist wie die der Finnen (die ja jahrelang Pisa-Gewinner waren), will man hier empirisch eventuell ungern etwas belegen, was dem Narrativ der Bildungsungerechtigkeit zuwiderläuft.
Oberflächlich zur These gegoogelt, man findet: „Das slowenische Schulsystem ist einheitlicher als das deutsche, was auch daran liegt, dass Slowenien etwa so groß ist wie Bayern.“ Bayern schneidet in Bildungsfragen traditionell besser ab als zum Beispiel Berlin, aber das dient nicht dem Beleg der These, sondern ist nur etwas gepiesackt. Jedoch, ernsthaft: Könnte es sein, dass Slowenien als ehemalige Teilrepublik Jugoslawiens noch profitiert von einem sozialistisch organisierten Bildungssystem? Die Historikerinnen Lea Ypi (Herkunftsland Albanien) oder Katia Hoyer (forscht über die DDR) würden da vielleicht zustimmen. Jedoch nicht nur, weil in diesen Systemen in der Schulbildung mehr Chancengleichheit herrschte, sondern auch eine grundsätzlich andere Auffassung vom Lernen an sich. Googelt man Singapur. Und landet bei der Robert Bosch Stiftung. Schulportal-Kolumnist Michael Schratz reiste 2018 mit einer Gastprofessur zum Pisa-Sieger, begab sich auf Spurensuche. Schratz beobachtete, was viele Bildungsinteressierte, Experten und Politiker:innen einfach nicht so gern hören: dass der größte Teil der Jugendlichen die Schule erfolgreich abschließe, liege natürlich an – gezielten – Bildungsinvestitionen, an der gesellschaftlichen Wertschätzung des Lehrerberufs, jedoch nicht zuletzt auch an den berühmten „asiatischen Tugenden (Anstrengung, Fleiß, Disziplin)“.
Beim Wort „Tugend“ werden „die“ im Lehrerzimmer gerade nervös und man kriegt kiloweise empirische Daten auf den Tisch beziehungsweise per Mail auf den Laptop, die belegen, dass ... – Fortsetzung folgt.
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