Klappt man ein Buch zu und will gleich mehr über seine realen Bezüge erfahren, hat man fraglos einen eindringlichen Roman gelesen. So geschehen bei Die Durchsichtigen. Ondjakis Roman spielt im westafrikanischen Boomstaat Angola, in der Boomtown Luanda. Die Hauptstadt mit ihren rund fünf Millionen Einwohnern ist eine der teuersten Städte der Welt, die Miete für eine Zweizimmerwohnung beträgt etwa 5.000 Euro oder 5.000 Dollar, egal, es ist ein irrationaler Betrag, genauso irrational wie die katastrophalen Verhältnisse sonst im sogenannten Petroleumparadies. Denn Angola ist zwar Afrikas größter Erdölproduzent, danach zweitgrößter Diamantenexporteur, und seit kurzem ist der Erdgasexport das Riesengeschäft des Landes, doch seit 1979 steht Präsident José Eduardo dos Santos an der Spitze des Landes, und das klingt schon mal nicht gut. Angola gehört denn auch – trotz anhaltendendem Boom – zu den ärmsten Ländern der Welt, die meisten Bewohner leben in den Slums von Luanda. So auch „der Briefträger“ in Die Durchsichtigen. Er orientiert sich an der Anordnung des Mülls, um den Weg zu seiner Behausung zu finden.
Real existierender Irrwitz
Nach dem Jahrzehnte wütenden Bürgerkrieg, der 2002 endete, erholt sich das Land nur langsam von den Folgen, die Korruption bleibt ein Riesenproblem. Jährlich verschwinden circa 30 Prozent der gesamten Erdöleinnahmen. Ausländische Investoren (die Chinesen natürlich!) und eine kleine Oberschicht erfreuen sich am sagenhaften Rohstoffreichtum oder dem, was man in Angola noch zu Gold machen kann. Kleine Randrecherche: Der Tochter des Präsidenten gehört beispielsweise ein Viertel der größten Bank in Angola, sie ist die erste Milliardärin Afrikas. Eines von vier Kindern stirbt in dem Land, bevor es fünf Jahre alt wird. Selbst wer in Luanda Arbeit hat, kann immer zu wenig zu essen und keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.
Genau in diesem Chaos von Widersprüchen (und Offensichtlichkeiten) ist Ondjakis Roman angesiedelt. Dass in ihm nicht nur eine faszinierend weiß schimmernde Kakerlake einen schicksalhaften Auftritt hat, sondern auch Odonatos Körper buchstäblich immer durchsichtiger wird, weil er beschlossen hat, den Kampf gegen den Hunger (überhaupt gegen alle Widrigkeiten) einfach aufzugeben, also das Essen lieber ganz zu lassen, scheint folgerichtig.
Der magische Realismus mag charakteristisch sein für die afrikanische Literatur im Allgemeinen, besonders aber trifft seine Erzählhaltung eine hochmoderne Bananenrepublik, wenn man das so sagen darf. Denn Angolas Irrwitz ist real existierend und gleichzeitig so irreal. Man könnte an Herta Müllers eindrückliche Beschreibung des Hungers in Atemschaukel denken, in der es magische Momente gibt. Aber anstelle von Schmerz weht bei Ondjaki ein (subtropischer) Wind, angefüllt mit flirrender Melancholie. Zwar wird einer, der einem ans Herz gewachsen ist, ausgeraubt und der Mörder geht an das billige Handy, das er gerade geraubt und für das er gemordet hat, was er dem Anrufer unwirsch erläutert. Ein anderer wird nur so aus Spaß verprügelt, weil er kein gutes „Zitronengesicht“ macht, und der durchsichtige Odonato bringt seinem ältesten Sohn immer Essen ins Gefängnis, das dann die Beamten verspeisen, schlitzohrig geben sie dem Verzweifelten dennoch jeden Tag neue kulinarische Aufträge an die Frau mit. All das ist traurig, aber die Ungerechtigkeit ist in Die Durchsichtigen eben oft auch komisch, weil nur zu alltäglich und zu selbstverständlich.
Und dann sind da noch die notorisch Unerschütterlichen, die in diesem „System“ einfach klarkommen, sich clever durchzuschlagen wissen; einer gründet zum Beispiel erst ein hochambitioniertes Kunstkino mit Porno, dann eine Kirche, im hochreligiösen Angola ein Supergeschäft. Es gibt nur zwei Menschen in dieser liebevoll gezeichneten Gruppe von Nullprivilegierten, denen die angolanische Variante des Galgenhumors und der feinen Ironie abhandenkommt, einer von ihnen ist Odonato, der andere, Paulo Pausado, ist ein Journalist. Während wir also den Briefträger und sein rührendes Bemühen begleiten, ein Motorrad für seine Arbeit zu bekommen oder wenigstens ein Fahrrad, setzt „der Minister“ alles daran, die Erdölbohrungen direkt unter Luanda durchzusetzen, trotz aller Befürchtungen, dass das zu einer Katastrophe führen kann und wird. Ganz nebenbei geht es auch um die Privatisierung der Trinkwasserleitungen.
Almodóvar-Drehbuch
Ondjaki, der 1977 in Luanda geboren wurde, aber heute in Brasilien lebt, nachdem er Soziologie in Lissabon studiert hatte, Ondjaki also schöpft souverän aus der Farcekiste in einem Selbstbedienungsland, in dem nur die Korruption reibungslos zu funktionieren scheint, ansonsten ständig der Strom ausfällt, der innerstädtische Verkehr kollabiert, monatlich aber mehrere tausend SUVs zugelassen werden, die die Luft verpesten.
Irgendetwas liegt immer in dieser Luft, etwas Unbestimmtes, greifbar höchstens für diejenigen, die das Unglück technisch kommen sehen. Man wohnt in diesem seltsamen Haus mit den geborstenen Leitungen, die eine Dauerüberschwemmung produzieren, mit Odonato und seiner Familie und anderen seltsamen Figuren, die sich gut für ein Almodóvar-Drehbuch eignen: Einer hört immer Jazz und kann gut Kartoffeln schälen, Edu hat einen fernsehreifen krankhaft großen Hoden.
Essen gehört zu den wichtigen, sinnlichen Zeremonien. Mit Alkohol. Ständig werden Bier und Whiskey getrunken, das beschwingt und ist ungefährlicher als ein Schluck Wasser. Durst haben die Menschen die ganze Zeit in dieser tropischen Klimazone, in der Luanda liegt. (Der Durst ist das eine, Angola ist aber tatsächlich auch berühmt für seine boomende Whiskeyproduktion.) Wer nichts hat, schnorrt sich eben irgendwo ein. Gegrilltes, Alkohol, der irgendwie immer zu beschaffen ist, und Sex, das sind die drei Überlebensingredenzien, mit den Ondjaki einen zauberhaften Roman gemixt hat. Neben dem Humor natürlich. Und die Sexszenen, muss man sagen, sind wirklich gelungen. Warm, ehrlich, aufregend.
Info
Die Durchsichtigen Ondjaki Michael Kegler (Übers.) , Wunderhorn 2015, 338 S., 24,80 €
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