Die Einstellung des Schulbetriebs durch Covid-19 hat den digitalen Strukturwandel an den Schulen exorbitant beschleunigt, und zwar gegen alle bislang hartnäckige Bedenkenträgerei, denn nach einer Umfrage der Vodafone-Stiftung lehnten noch voriges Jahr 90 Prozent der Bundesbürger es ab, dass Schüler überwiegend mit „Fernunterstützung der Lehrer“ online lernen. In der Krise kam es nun mitunter geradezu zu gegenteiligen Effekten im Umgang mit einer neu entdeckten Technologie – genial etwa die Scan-App fürs Handy zum Fotografieren, Konvertieren, Hochladen von Hausaufgaben! Die Eltern waren einigermaßen froh, manches war nicht nur für den Unterricht der Kinder gut, sondern überhaupt für die Verwaltung des eigenen Lebens (Scan-App). Und so manches Know-how aus der Elternschaft half und hilft dem Lehrer beim Online-Unterricht. Flexibiliät, Share-Mentalität, Probierfreude – die sympathischen Assets einer technologieaffinen Gesellschaft – wurden umso freudiger begrüßt, als man dachte, dass das „Homeschooling“ eine temporäre Veranstaltung sei.
Der erste Video-Chat vom Kind mit der Klasse – nachdem die Lehrerin nach Wochen endlich das Set-up unter Berücksichtigung des Datenschutzes bewältigt hatte – war aufregend. Die erste soziale Interaktion mit Mitschülern nach Wochen! Zwar wurde naturgemäß geblödelt. Verhaltensauffällige waren schon vorher in der Klasse, und jetzt waren augenscheinlich neue „schwierige Kandidaten“ dazugekommen. Über die psychosozialen Folgen für Kinder im Shutdown kann man nur spekulieren. Eventuell gehört bald auch der fußballbegeisterte Sohn dazu, der sonst viel mit dem vermutlich noch lange verbotenen Kontaktsport kompensieren konnte. Der Sohn ist für digitale Neuerungen sehr zu haben, aber die Sportübungen per Video sind auf Dauer kein Ersatz.
Aktionistisch, ungeschickt
Mit der Hoffnung auf eine Rückkehr in die Schulen verpuffte der Early-Adopter-Geist – geblieben sind die Ängste, es stellen sich zunehmend düstere Verstimmungen ein, es gibt mehr Forderungen und Kritik, seit realistisch scheint, dass der Schulbetrieb in dieser Form noch Monate andauert, weitere Lockdowns der Schulen immer wieder drohen, womöglich so lange, bis ein Impfstoff gefunden wurde. Nun wird klar, wie hilflos die Lehrer im Umgang mit digitalem Unterricht doch waren und so langsam nerven dann all die „unsauber beschrifteten“ Anhänge per Mail statt Nutzung von Clouds, all die Kanäle, die Betreffzeilen, in denen nicht klar steht, um was es sich handelt, die dahingeschluderten E-Mails von LehrerInnen, die ihrer Vorbildfunktion nicht gerecht werden, sich einfach mehr Mühe geben könnten. Diese ganze Plan- und Konzeptlosigkeit.
Bei allem Ärger überwiegt aber das Verständnis für die Lage des Lehrers, der Lehrerin. Seit Jahren wird die Schule mit gesellschaftspolitischen Zielen überfrachtet. Und mittendrin der Lehrer, der all die Reformen umsetzen musste und nebenbei das Zeitalter der Digitalisierung nicht verschlafen durfte. Jetzt stellt man fest, dass der Frontalunterricht durch die Corona-Krise im digitalen Klassenzimmer eine Renaissance erlebt. Ein Video-Chat mit einem „Lerncoach“ = wahrscheinlich Chaos.
Von dem jungen Lehrer, nennen wir ihn Wippel, von dem gemunkelt wird, dass er kein Smartphone besitzt, den man also einen „digitalen Verweigerer“ nennen könnte, hörte man in den letzten Wochen fast nichts. Bis jetzt war Lehrern weitgehend freigestellt, wie sie den digitalen Unterricht gestalten. Der Schulleiter ist nicht der Dienstherr. Aber der Druck wächst. Und bei manchem Lehrer kollidiert die digitale Schule fundamental mit dem beruflichen Selbstverständnis. In einer anderen, kürzlich durch das Allensbach-Institut im Auftrag der Vodafone-Stiftung durchgeführten Studie mit 310 Lehrkräften an allgemeinbildenden Schulen zeigte sich, wie sehr Lehrer noch immer mit digitalen Lernformen und digitaler Kommunikation hadern. Nur wenige benutzten einen Messenger. Das hielt die Studie für erwähnenswert. Man fragte sich, warum sollten sie auch?! Die Digitalwirtschaft freut sich, dass die Bedenkenträgerei endlich aufhören muss. Im Tagesspiegel bilanzierte die Pädagogik-Professorin Birgit Eickelmann, (die die Vodafone-Studie konzipierte), man müsse Lehrer für „digital gestützte Lehr-Lernsettings“ jetzt fit machen. Ob Herrn Wippel schon bange wird, alleine bei diesem „Wording“? Ist das bald noch „sein“ Beruf? Und wäre es zukünftig nicht besser, dezidiert Online-Lehrer auszubilden, die darin eine Berufung sehen? Oder: Was ist mit künstlicher Intelligenz. Wenn schon, denn schon, dann eben Roboter als digitale Lerncoaches?
Schon klar, dass auch die (Bildungs-)Politik jetzt auch nur Wochenpläne schreibt – je nach Reproduktionsrate oder neuer Hiobsbotschaft. Aber wo bleibt die Perspektive? Bis zu den Ferien wird es für die meisten SchülerInnen nur tageweise Präsenzunterricht geben, im Schichtbetrieb, unter Beachtung der Hygieneregeln Pausen wie im Gefängnishof. Die große Frage ist: Was wird nach dem Sommer? Die Ideen der Politik wirken bis jetzt aktionistisch, ungeschickt, so sollen Schüler, hört man, aus bildungsfernen Schichten, Förderschüler und Kinder berufstätiger Alleinerziehender Notbetreuung erhalten, beim Präsenzunterricht bevorzugt werden. Man will sich das logistisch vorstellen, denkt an die stigmatisierende Signalwirkung. Beschult werden müssen weiterhin die Kinder von Eltern in systemrelevanten Berufen. Wäre ein Kind mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche jetzt günstig? Hilfe! Man hofft jetzt auf mehr beherzte Entscheider. An einem Gymnasium im mecklenburg-vorpommerschen Neustrelitz hat ein Schulleiter Tests jeweils zweimal pro Woche angeordnet, er kann so den Schulbetrieb gewährleisten. Könnten solche Tests Schule machen?
Für den Aufbau einer Online-Infrastruktur werden jetzt weitere 100 Millionen Euro aus dem Digitalpakt Schule fließen. Es ist sicher kein Zufall, dass die Vodafone-Stiftung (es könnte auch Bertelsmann sein) solche Umfragen zur digitalen Bildung inmitten der Corona-Krise initiiert. Die „digitalen Verweigerer“ werden noch mehr in die Ecke gedrängt. Dabei sind ihre Argumente ja nicht plötzlich falsch, nur: Interessieren gerade Bedenken wie die, dass die Aufmerksamkeitsspanne beim digitalen Lernen viel kürzer ist? Dass Defizite wie mangelnde Rechtschreibkompetenz bei Viertklässlern jetzt noch stärker werden könnten, weil Schreibanlässe fehlen? In Asien übrigens sind viele junge Menschen kurzsichtig – wegen der übermäßigen Nutzung elektronischer Medien und weil immer weniger Zeit draußen verbracht wird.
Den Herbst erlernen
Was aber pädagogisch sinnvoll ist, ist inzwischen nicht die primäre Frage, wenn sich die Gesellschaften auf temporäre Lockdowns über Jahre einstellen müssen. Der Fernunterricht droht stattdessen alternativlos zu werden, weil Räumlichkeiten fehlen und Lehrer. Wer zur Risikogruppe zählt oder Vorerkrankungen hat, darf nicht für den Unterricht eingesetzt werden, wer über 60 ist, darf selbst entscheiden – und das in einem Land, in dem schon vor Corona Tausende Lehrer fehlten.
Ein Land im Digitalrausch. Der Medienkritiker Roberto Simanowski ist überzeugt, dass IT-Unternehmen, die schon seit Jahren auf den milliardenschweren Bildungsmarkt drängen, jetzt noch stärker Lobbyarbeit für ihre Produkte betreiben. Und leider sind solche Softwarepakete so manchen nicht kommerziellen Lernplattformen oft auch überlegen. „Covid-19 ist das Beste, was der Digitalisierung passieren konnte.“
Es zirkuliert derweil noch ein rentabler Mangel für die Digitalwirtschaft. In vielen Familien fehlt die Hardware, vor allem wenn sie arm sind. Aber auch in der Mittelschicht liegen oft nicht stapelweise die Laptops herum. Aus Kostengründen nicht, und aus Prinzip nicht. Man würde das „digitale Endgerät“, wenn es subventioniert wird, wohl annehmen. Dennoch: Vor Corona war das Problem vieler Eltern die exzessive Mediennutzung der Kinder, es wurde zum Problem während Corona und es wird das Problem in einer „Post-Corona-Welt“ sein.
Es wäre trotz der Pandemie nicht nur deshalb falsch, das Digitale zur Lebensform zu machen. Was wir jetzt neben digitalen Konzepten brauchen, sind Detox-Konzepte. Zum Beispiel für die Ferien: Es könnte jetzt darum gehen, in Handwerk und Naturkunde und in alten Kulturtechniken zu schulen. Man könnte die SchülerInnen „in den Herbst“ schicken, in den Weinanbaugebieten war es lange Tradition und Notwendigkeit, dass Kinder bei der Weinlese halfen oder auf den Feldern beim Heumachen. Sind das noch utopische Gedanken? Für unseren Lehrer Wippel wäre ein Smartphone mit Taschenlampe sicher erlaubt.
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