Worum es eigentlich geht

Raum für Notizen Iris Hanika hat einen imponierenden Roman über das schwierige Gedenken an die Nazi-Verbrechen geschrieben

Es wird ja viel geklagt über die jüngste deutsche Literatur. Sie sei nicht mehr als eine Hybris, eine im Drogenrausch ausgeworfene schlechte Form von Intertextualität. Und bei all dem Geschimpfe wird ein gutes Buch fast übersehen. Das Eigentliche von Iris Hanika besitzt genau diese besondere Physiognomie, wie Autor Thomas Hettche es nennt, die einen Roman einzigartig macht und von der aktuellen Literatur oft eben nur simuliert wird.

„Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort“, schrieb 1835 Joseph von Eichendorff und meinte damit die verborgene Poesie unserer Welt, die durch die Dichtung erst sichtbar wird. Seither wurde diese schöne Metapher für die Kraft der Kunst immer wieder vom Film, der Musik und natürlich der Literatur aufgegriffen. Auch Iris Hanika nimmt auf sie Bezug, arbeitet sie aber radikal um: „Jedem Lied wohnt Auschwitz inne, jedem Baume, jedem Strauch. Jedem Lied wohnt Auschwitz inne und jedem deutschen Menschen auch.“ Der zärtliche und leise Wortklang bleibt, dann eine Leerzeile, am Schluss steht ein böses „Fiderallala“. Auschwitz-Birkenau war das größte der nationalsozialistischen Vernichtungslager, Auschwitz wurde zum Symbol für den Holocaust.

Der Neurotiker

Hans Frambach braucht man dergleichen nicht zu sagen. Der Held von Hanikas Roman arbeitet als Archivar im renommierten „Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung“, mitten im geschichtsträchtigen Herzen von Berlin. Man will sich nichts nachsagen lassen, das symbolisiert allein die A-Lage, und ein zackiger Chef Marschner doziert stolz, das Archiv sei state of the art, vieles nur durch public private partnership ermöglicht worden, durch fundraising und outsourcing und so weiter. An sich wäre sein abgedroschener Werbejargon höchstens ärgerlich, hier aber geht es um Auschwitz. Auch das moderne Rechenzentrum funktioniert perfekt, der Geldkartenautomat in der Kantine, genauso das Lächeln von Hans, das allmorgendlich hochfährt – alles funktioniert in diesem Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung.

Hans wird darin nicht glücklich. „Unsere Vergangenheit ist fürs Massenpublikum kompatibel geworden… es sind nur Chiffren, wir sind nicht gemeint. Juden und Nazis sind andere Wörter für ‚die Guten‘ und ‚die Bösen‘ geworden, und die ‚die Deutschen‘ in diesen Filmen sind nicht wir“, denkt er und kannte da noch nicht Quentin Tarantinos Film Inglorious Basterds. Er kann nicht anders, als die deutsche Vergangenheitsbewältigung in Kunst, Politik und Alltag zu beobachten, ihre Entfernung vom Eigentlichen zu dokumentieren. Das tut er manchmal sarkastisch, oft hilflos, immer leidend; Auschwitz hat sich ihm zum Lebensthema aufgedrängt.

Nun verhält es sich so, dass Hans ein Neurotiker ist. Er verkörpert gewissermaßen den Woody Allen der Enkelgeneration, um so mehr als es im Roman keinen Hinweis auf eine Verstrickung des Großvaters, der Famile gibt. Es ist der Autorin gelungen, einen Typus zu kreieren: Hans Frambach verkörpert Anspruch und Scheitern einer „angemessenen“ Haltung zu den Verbrechen der Nazizeit zugleich. Vielleicht verkörpert er sogar die einzig mögliche Haltung im Drama der Zeit, die das Schreckliche immer weiter aus dem Erleben und Mitfühlen rückt.

Hans will diesem Schicksal trotzen und kann dann doch nichts anderes tun, als jeden Abend den Spießrutenlauf über die Berliner Stolpersteine zu machen, „kleine, goldene Grabsteine, auf die er nicht treten wollte“ und Treblinka, Theresienstadt, Auschwitz zu murmeln. In gewisser Weise wird der Holocaust von Hans auch instrumentalisiert, er ist seine kleine Sinnmaschine. Nicht, dass er es nicht wüsste. „Er wusste das alles, aber es nützte nichts.“

Es hilft ihm auch nicht, in Graziella Schönbluhm eine Seelenverwandte gefunden zu haben. Die aparte Frau findet den permanenten Auschwitzvergleich keineswegs verrückt, wie er leidet sie an dieser Art Holocaust-Fixierung. Indes – anlässlich einer Affäre verabschiedet sie sich dann recht pragmatisch von beider Dauerthema. Hans erträgt mit ironischem Gleichmut „wie statt durch Enkelschaft und Nationalität begründete Verstrickung in die deutsche Schreckensgeschichte nun nämlich jede Äußerung Joachims analysiert, interpretiert und bewertet wird.“

Es sind solche Stellen, die den Roman tief und leicht zugleich machen; so viele Dinge gibt es in der Welt, kosmisch groß, unendlich traurig, schön oder irdisch banal, die um unsere Empathie konkurrieren und menschlich: nicht immer ist die Intensität dabei objektiv nachvollziehbar.

Graziella hat allerdings einen Makel, für den sie nichts kann: Ihr Name lässt sich nicht durch drei teilen; eine der vielen Hans-Marotten, aus denen freilich eine abgründige Komik geschlagen wird: „Indes konnte er nicht ständig ihren Nachnamen mitdenken, als sei ihr voller Name der eines Sturmbandführers einer Akte.“ Es bleibt bei einer platonischen Freundschaft, auch wenn Hans wohl gerne mehr hätte. Die Hinwendung Graziellas zu diesem Joachim muss ihm wie ein Verrat an der Sache vorkommen, andererseits ist die neue Konstellation ein weiterer Kompromiss, sie erhält ihm wenigstens die Freundschaft. Hans, der Halbherzige. Halbherzig freut er sich auf eine berufliche Herausforderung, Hans soll im Auftrag der Gedenkarbeit einen (Prestige-)Fund in Shanghai betreuen.

Es ist nur konsequent aus der Hans-Sicht, dass er diese Aufgabe nicht eben spannend findet. Hans entlarvt auch hier das „Erinnerungs-Management“, wir sehen aber auch einen Helden, der im Zynismus durchaus Ehrgeiz zeigt: „Jetzt den Überraschungsschlag führen. ‚Und die Gedenkstätte?‘ fragte Hans seinen Chef, ‚wird die eingerichtet?‘ ‚Das steht noch nicht ganz fest‘, sagte Marschner etwas fahrig, ‚es gibt noch zu viele Zwangsarbeiter, die entschädigt werden müssen. Es ist noch zuwenig Geld da.‘ Nun den Beschämungsschlag. ‚So viele Zwangsarbeiter, dass keine Gedenkstätte eingerichtet werden kann‘, fasste Hans zusammen.“

Das Dilemma aushalten

Mitten im Buch gibt es mal ganz leere, mal fast leere Seiten oder Seiten, auf denen Raum für Notizen steht. Soll man hier das Unbehagen hineindenken, die eigenen Momente notieren, die eigenen Stolpersteine? Man könnte aber auch den Roman noch einmal auf diese Seiten schreiben: Die Todesfuge von Paul Celan gilt bekanntlich als erster geglückter Versuch überhaupt für eine mögliche Sprache nach 1945, sie wurde zum Holocaust-Gedicht sui generis und seine Bekanntheit zum Problem: Celan weigerte sich später, die Todesfuge noch öffentlich zu lesen, das Gedicht sei „lesebuchreif abgedroschen“ geworden. Aber ebenso falsch wäre es, die Todesfuge nicht mehr zu lesen.

Ein solches Dilemma aushalten – das ist vielleicht die stärkste Botschaft des Romans. „Im Gedicht gewinnt die deutsche Sprache die äußerste Verdichtung ihrer sinnlichen und intellektuellen Möglichkeiten … Deshalb mag das Gedicht so unmittelbar zu faszinieren und zu irritieren … wie keine andere literarische Form“, sagt der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt. „Schläft ein Lied in allen Dingen …“ – man könnte sagen, Das Eigentliche von Iris Hanika ist so ein Gedicht in Prosa.

Das Eigentliche Iris Hanika Literaturverlag Droschl, Graz 2010, 175 S., 19

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