Es war im Jahr 1965 um etwa halb elf Uhr abends. Noch bevor der eigentliche Star des Events, der Beatpoet Allen Ginsberg in der Londoner Royal Albert Hall seinen Auftritt hatte, stand plötzlich der damals vollkommen unbekannte 40jährige Lehrer und experimentelle Lyriker Ernst Jandl gar nicht beatnik-like mit Brille auf der Bühne und pervertierte die Anschlussrede Hitlers vom März 1938, indem er, ein Österreicher in England, dessen Rede in irre Wortfetzen zerlegte. wien: heldenplatz war eine kongeniale Verhackstückung der berühmt-berüchtigten Ansprache.
Das Ganze klang angeblich so unheimlich aggressiv und dämonisch, dass Augen oder besser gesagt, Ohrenzeugen meinten, in Jandl Hitler himself zu hören. Dann – bei der Ode an N, einem Gedi
einem Gedicht, das nur aus den Buchstaben Napoleons besteht, fingen die 7.000 Zuschauer (darunter die spätere Ministerpräsidentin Indira Ghandi) an zu toben – vor Begeisterung. Schaut man heute die Schwarz-Weiß-Aufnahme von damals an und hört das Toben und Lesen, ist immer noch viel von dieser Atmosphäre zu spüren, man bekommt schier Gänsehaut.Der Live-Mitschnitt dieses legendären Auftritts in der Royal Albert Hall steht akustisch und optisch im Zentrum einer Ausstellung im Wien Museum, die zu Recht die Ernst Jandl Show heißt. Der Dichter Jandl, er starb 2000 und wäre heuer 85 Jahre alt geworden, ließ sich zu Lebzeiten in keine Schublade stecken, eher noch in eine große unübersichtliche, schrill bemalte Kommode. Man zählt ihn zur künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts.Äußerst heikler VortragsstilDie stellte ja bürgerliche Kunstbegriffe auf den Kopf, verwischte die Grenzen zwischen Kunst, Musik und Text und postulierte die „Überschreitung respektive Aufhebung der Grenze zwischen Leben und Kunst“. So beschreibt es Jandl selbst und in dieser Formulierung wurde es durch Peter Bürgers Theorie der Avantgarde zur Definition. Jandls historische Vorbilder waren die Dadaisten Kurt Schwitters und Hugo Ball oder Gertrude Stein, zu seinem direkten Umfeld zählte die Wiener Neo-Avantgarde, obschon er nicht richtig dazugehörte. Politischer Inhalt war tabu, seine Sprachexperimente erschienen, als konkrete Poesie verstanden, nicht radikal genug und sein Vortragsstil als äußerst heikel, denn nach 1945 war jede Expressivität im Vortrag verpönt. Sogar Celan hatte man infamerweise vorgeworfen, er klinge wie Goebbels. Jandls Gedichte aber marschierten, das R rollte, bis es sich überschlug. Später erlangte dieser manchmal manisch wirkende Vortragsstil fast Kultstatus. Für seine Sprachexperimente verwurstete Jandl alles, was ihm brauchbar erschien: Fremdsprachen, heruntergekommenes Deutsch, den Sprachduktus von Migranten.Die Ausstellung ist denn auch eine dem Künstler würdige Reizüberflutung, man muss aufpassen, dass man vor lauter Ah! und Oh? den Mund wieder zukriegt. Aus allen Ecken dringt Jandls Stimme zu uns. Zusätzlich kann man sich hier und dort Kopfhörer aufsetzen, zum Teil unveröffentlichtes Material hören und sehen: Gespräche, Konzertmitschnitte, Filme, eigene und gesammelte Zeichnungen. In einer kleinen Ecke finden sich Kinderbuch-Klassiker, zu denen er die Texte geschrieben hat, wie fünfter sein, einer Ausgabe, die anrührend von Norman Junge illustriert ist oder seine eigene Farbe von Leo Lionni, ein Buch, das Jandl übersetzt hat. An die Wände ist ein Best of seiner Gedichte projiziert.Es gibt Briefe aus seinem Leben, Liebesbriefe zwischen ihm und Friederike Mayröcker, Zeitungsausschnitte und Fotos, die Covers seiner illustren Plattensammlung sind am Boden montiert. Viel Jazz ist darunter, für Jandl schlicht die beste Musik des 20. Jahrhunderts; seine Gedichte sind Arrangements wie bebop-Songs, er übte mit Metronom, ja auch sein Vortragsstil ist ohne den Jazz nicht zu denken. Als ihrer Zeit voraus gelten auch die gemeinsamen Konzerte mit dem Musiker und Komponisten Dieter Glawischnig. Anders als andere Lyrik-Jazz-Projekte waren sie eine progressive Melange zwischen Wort und Musik: „Seine Texte fielen wie ein drittes Instrument in das Zwiegespräch eines Klaviers und eines Basses ein und trieben die Improvisationen bald schneller-lauter, bald langsamer-leiser voran“, vermerkt man 1966 in den Österreicher Nachrichten.Aber was bedeutet Jandl heute? Natürlich, Freitag-Lesern braucht man mit seinem Bonmot „manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechsern werch ein illtum“ nicht zu kommen. Oder nehmen wir ottos mops. Das Gedicht handelt vom komischen Mops, der erst trotzt und dann kotzt. Eine kleine Umfrage im Bekanntenkreis zeigte, dass beim Stichwort Jandl mehrmals vielsagend lächelnd und ohne langes Zögern ottos mops genannt wurde. Für die meisten ist Ernst Jandl ein Held aus Kindertagen, im Deutschuntericht brachte er ein Stück fröhlicher Subversivität an die Pulte und das Jandln in die Köpfe. ottos mops trotzt/otto: fort mops fort/ottos mops hopst fort/otto: soso...Aber was heißt hier „privat“?Glücklich, wer ihn zu Lebzeiten in einer Lesung erlebt hat – heute bleiben youtube, die Ausstellung natürlich, oder die zur Ausstellung erhältliche DVD. Vielleicht hat der eine oder andere auch das legendäre Gespräch zwischen Jandl und Blixa Bargeld aus dem Magazin der Süddeutschen aufbewahrt. Die Show gibt auch kuriose Einblicke in das private Leben des vielseitigen Künstlers, aber was heißt „privat“, seine Avantgarde wollte ja Kunst in Lebenspraxis überführen. Zum Beispiel so: Als reifer Künstler produzierte Jandl nicht nur Vorrats-Wortlisten für seine Gedichtproduktion, er verwaltete ein ganzes Alltagslistenwesen. Eine tägliche to do Liste, Gepäcklisten für Reisen, eine für Korrespondenz aus dem Urlaub, wer bekommt die Postkarte, den Brief, wem schildert man den Blick vom Gipfel. Und Medikamentenlisten. Vielleicht halfen sie ihm, die innere Ordnung in einem Kopf zu bewahren, in dem, so stellt man sich vor, unaufhörlich viele mit Musik unterlegte Stimmen ratterten: Sorgfältig wurde das jeweils Erledigte abgehakt, ein Häkchen auch hinter dem geheimnisvollen Eintrag „1h Ged.“Und – man muss den Kuratoren zustimmen – bei einem Künstler, bei dem das Spiel mit der Sprache spätestens nach seiner vorzeitigen Pensionierung als Lehrer zu einer „Existenzform“ wurde, hat das vergilbte Papier, der Schreibmaschinentext in Courier, die Handschrift einen eigenen Kunstwert – ist visuelle Poesie, verdient offizielle Untertitel: Gepäckliste zu einer Reise nach Berlin, 13-17.5.1992, Kugelschreiber und Tinte auf Papier, 14,7x10,5cm. Nein, Ernst Jandl kann man nicht verwechseln.
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