Erst feiern, dann sterben

Alterswerk Silvia Bovenschen lässt betagte Damen Abschied vom Leben nehmen und dabei eine weiße Villa zerdeppern
Ausgabe 36/2013
Ob diese zwei Damen auch gerade beschließen, es noch einmal krachen zu lassen?
Ob diese zwei Damen auch gerade beschließen, es noch einmal krachen zu lassen?

Foto: Barbara Sax/AFP/Getty images

Die Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen begann ihre späte Schreibkarriere mit einem gefährlich elitären Textgenre. Auf wundersame Weise wurden ihre Essays über das Altern dann aber nicht nur von den Feuilletons gefeiert, sondern verkauften sich so gut wie mancher Glücksratgeber. Das geht aufs Konto einer Autorin, die das Elaborierte mit dem Populären derart virtuos verschmelzen kann (Die Welt, „ein Geschwür am Arsch eines Riesen“!), dass es ein Vergnügen ist, sich darin zu verlieren.

Erst mit 64 wagte Bovenschen sich dann an die literarische Königsdisziplin. Sie schrieb nun auch Romane. Das war 2009 und 2011. Auch hier gelang ihr einiges. Mit Wer weiß was? Eine deutliche Mordgeschichte legte sie einen lässigen Genremix aus Campusroman, Whodunnit und postmoderner Groteske vor. Im Zentrum des Geschehens lag eine professorale Leiche. Wie geht es Georg Laub? ließ dann einen gefeierten Schriftsteller ein irres Spiel der „Selbstverkargung“ in einem Abbruchhaus treiben – nur um ihn am Ende in den sozialen Netzwerken gegen seinen Willen regelrecht untot zu machen. In Bovenschens neuem Roman Nur Mut findet sich manches aus diesem Materialreservoir wieder. Es geht ums Sterben, Verschwinden, ums Dennochüberleben.

Party in der Geronten-WG

Die Grundsituation lässt sich auf die kolportagehafte Formel bringen: „Geronten-WG“ feiert eine morbide Lebens-Abriss-Party. Vier Greisinnen kohabitieren in der Villa der emeritierten Paläontologie-Professorin Charlotte. Johanna ist eine wortkarge Schriftstellerin, die sich auf eine Art Ein-Phrasen-Kommunikation zurückgezogen hat. „Unerhört“, gellt es von Zeit zu Zeit durch die „weiße Villa“. Und wenn sie nicht gerade etwas „unerhört“ findet, bloggt Johanna, Kopfhörer auf den Ohren, MacBook Air auf den Knien, drei Kissen im Rücken. Und warum tut sie das? „Damit ich bin. Damit ich war. Damit ich sein werde.“

Schlimmer noch als der körperliche Verfall muss die narzisstische Kränkung sein, als Person und mit seinem Werk bald in Vergessenheit zu geraten. Nadine hat ein ähnliches Problem. Mit ihrer schwindenden Schönheit ist im Alter auch die Wette auf jede Lebenspotenz verloren gegangen. Leonie schließlich murmelt vor sich hin, vermutlich mit ihrer bei einem Autounfall verstorbenen Familie. Auch die Hausherrin Charlotte hat ein Sensorium für herbstzeitliche Atmosphären. Das Wort „Salon“ benutzt sie in Bezug auf ihre bourgeoise Situation durchaus: „verfallsbewusst“.

Es bröckelt also der Putz, der Lack ist ab, das Pathos des Lebens wird von der Faktizität des Todes verdrängt, zumal eines altersgemäßen Todes, dem Nadine entgegensieht und der im Grunde auch allen anderen längst im Nacken sitzt: „Hinten Lyzeum, vorne Museum“, den Spruch kennen Menschen der vierziger Jahrgänge und er findet sich auch in Bovenschens Essays Älter werden. Jetzt wird der Tod von der selbst seit Jahrzehnten mit einer schweren MS-Diagnose belasteten Autorin noch einmal in aller Feierlichkeit auserzählt. Was aber macht man literarisch aus einem solchen Alumni-Treffen der mal Gewesenen?

Toter Vermögensverwalter

Früher, heißt es im Buch, da waren sie öfter in die Oper gegangen. „Man gab Traviata, aber die hatten sie 1961 in Wien und 1974 in Hamburg und 1982 in Salzburg schon besser gesehen“ – man macht daraus eine Walpurgisnacht! Nadines Krebs-Diagnose ist eine Art Hiatusmoment, der die Perspektive aufs zerrinnende Leben sprengt. Denn wer es immer von seinem Zenit aus betrachtet, muss am Alter verzweifeln, wer es als Befreiung von lästigen Verpflichtungen begreift, der kann es noch mal ordentlich krachen lassen.

Sterben muss dafür vorerst keine der vier Damen – nur ein verbrecherischer Vermögensverwalter, der Gelder der Geronten-WG veruntreut hat, wird via Schürhaken ins Jenseits befördert. „Es gibt kein Ziel mehr. Es gibt nichts mehr zu tun. Jetzt bin ich für andere nur noch gefährlich“, verkündet Charlotte trocken. Anschließend demolieren die vier die großbürgerliche Einrichtung der Villa, hacken und schmeißen alles kurz und klein, bis sie Besuch von einer seltsamen Phantastentruppe erhalten: einem kleinen Mädchen mit blauer Schaufel, einem schönen Schwan, einem rundlichen Herrn und einem alten Hund.

Ein solcher Allegorienaufmarsch mit Sprecheinheiten voller Schalk und Kinderweisheit sorgte schon in Wie geht es Georg Laub? für Aufruhr – damals waren es vier Gestalten, die böse Tiraden auf den gescheiterten Schriftsteller Laub abfeuerten. Jetzt verkündet der schöne Schwan bloß: „In mir westen ein höchster Gott und ein armer Ritter. Ich steh für die erleuchtete und die arme Kreatur. Für das geflügelte Ross ebenso wie für den geschundenen Gaul, den ein Philosoph umarmte, für Kafkas Affen und Müllers Kuh.“ Ja, wenn das nicht ein Todesbote ist – oder vielleicht ein Guru? Als Dörte, das sprachlich verzogene Enkelkind von Charlotte, von einer Party nach Hause kommt, findet sie das Haus von innen verbarrikadiert vor. Von den Frauen fehlt jede Spur. Der Vermögensverwalter liegt tot in der Bibliothek.

Silvia Bovenschen hat erneut ein Buch über das Verschwinden geschrieben, genauer: über die Freiheit zu verschwinden. Noch einmal werden alle Genres, alle Slangs, alle Alter, alle Standpunkte durcheinandergeschüttelt; eine Geschichte in der Geschichte wird präsentiert: Johanna schreibt einen Roman über vier alte Damen in einer WG, und ein verliebter Mann erzählt seiner Frau davon. In Älter werden äußerte sich Bovenschen zu ihrem literarischen Formempfinden: „Was soll mir in meinem Alter noch passieren? (Vielleicht ist das gar nicht wahr, Ausrede nur, vielleicht habe ich schlicht keine Lust mehr an den geschlossenen Formen.)“

Ganz offensichtlich hat sie keine Lust mehr daran, hat sie vielleicht, abgesehen von ihrer 1979 erschienenen bahnbrechenden Dissertation über Präsentationen des Weiblichen, nie gehabt. Und ja, was kann ihr schon passieren? Sie kann ja jederzeit verschwinden, in einer weißen Villa aus Papier und Buchstaben.

Nur Mut. Roman Silvia Bovenschen Fischer Verlag 2013, 160 S. 16,99 €

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