Vor der Inflation sind wir nicht alle gleich

Armut Der galoppierende Preisanstieg teilt die Menschen in die, die ihr Vermögen schützen können. Und jene, die der Geldentwertung schutzlos ausgeliefert sind
Ausgabe 08/2022

Seit Januar 2022 bekommen Menschen, die von ALG II leben, monatlich drei Euro mehr. Eine Erhöhung von 0,67 Prozent: Die Inflationsrate allerdings betrug im Januar 2022 4,9 Prozent, im Monat davor sogar mehr als fünf Prozent. Die drei Euro mehr für Hartz-IV-Empfänger laufen unter „regulärer Bedarfsanpassung“. Obwohl nichts mehr an der derzeitigen Preisentwicklung „regulär“ ist.

Kaum jemand traut sich noch zu behaupten, das mit der Inflation sei eine schnell vorübergehende Erscheinung. Und es ist allgemein bekannt, dass von ihr jene am schlimmsten betroffen sind, die am wenigsten haben. Nicht nur alle Menschen, die mit dem von Beginn an unwürdigen Hartz-IV-Regelsatz leben und im schlimmsten Fall auch noch mit Sanktionen bei „Fehlverhalten“ rechnen müssen. Sondern auch alle, die von Armutsrenten, prekären Beschäftigungsverhältnissen, zu niedrigem oder verweigertem BaFöG, Soloselbstständigkeit betroffen oder alleinerziehend sind – die Liste aller, die von der Inflation existenziell bedroht sind, ist lang.

Inflation wird zur Bedrohung

All diese Menschen leiden nicht darunter, dass ihre Sparguthaben nicht länger wachsen, sondern gar schrumpfen. Sie haben gar kein Sparbuch, müssen sich also darum keine Sorgen machen. Sie werden auch keine Möglichkeit haben, die „Flucht in Sachwerte“ anzutreten. Geld, das man nicht hat, lässt sich der Entwertung nicht entziehen. Auch Negativzinsen werden auf absehbare Zeit für diese Menschen unproblematisch sein: Einkommensschwache Haushalte verfügen über nichts außer ihr geringes Einkommen, das durch eine Inflation entwertet werden könnte.

Klar könnte man jetzt einwenden: Aber privat Verschuldete könnten sogar von der Inflation profitieren, weil so die Last ihrer Schulden entwertet wird! Das stimmt, geht jedoch völlig an dem vorbei, was die wirkliche Bedrohung ist.

All die Bereiche, in denen Menschen keine Ausweichmöglichkeiten haben, sondern zahlen müssen, machen aus einer Inflation, wie wir sie jetzt haben, eine Bedrohung. Lebensmittelpreise, Energie- und Mobilitätskosten, Mieten, Dienstleistungskosten und Materialpreise, wenn sie notwendige Alltagsgegenstände betreffen. Wer sich gerade mit dem Problem herumschlägt, ob es besser ist, in Immobilien zu investieren oder man es nicht lieber mal mit Kryptowährungen versucht, den interessiert nicht so sehr, ob der Warenkorb der Konsumentenpreise teurer geworden ist. Der oder die kann Gegenmaßnahmen ergreifen, um der Inflation Geld und Vermögen zu entziehen. Es rettet sich, wer kann. Die meisten können nicht.

Gemüse kaufen oder heizen?

Im Erzgebirgskreis, der Region mit den niedrigsten Löhnen hierzulande, sind mehr als 43 Prozent der Beschäftigten mit Fragen befasst, die alle darauf hinauslaufen, ob man es bis zum Monatsende schafft, ob man Miete, Strom und Heizkosten bezahlen kann und das Essen von Gemüse nicht besser lassen sollte, auch wenn es ja sehr gesund sein soll.

Die Politik hat im Umgang mit einer Inflation, die sich längst nicht mehr allein mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer, kurzfristigen Lieferkettenunterbrechungen oder anderen zeitweiligen Schwierigkeiten erklären lässt, einen Umgang gefunden, auf den viele Adjektive passten. Ignorant, demütigend, kurzsichtig. Armutsfest im Sinne, dass Armut verstetigt wird.

Sie setzt auf Einmalzahlungen oder Soforthilfen. Egal, wie die Begriffe lauten, sie meinen: Wir finden das mit den drei Euro ALG II mehr schon richtig, sehen aber auch ein, dass es hin und wieder eines Almosens bedarf. Almosen konnte die vorherige Regierung, aber es scheint, als beherrschte auch die neue den Kanon völlig unzulänglicher Maßnahmen, die in der einen oder anderen Form den insgesamt rund 13 Millionen Menschen zugutekommen, die hierzulande als arm oder armutsgefährdet gelten. Inzwischen werden es mehr sein.

Während die einen weiterhin überdurchschnittlich belastet werden durch die Inflation, was keine Einmalzahlung ausreichend zu kompensieren in der Lage ist, finden die anderen Wege, ihr Vermögen „inflationssicher“ anzulegen. Weshalb es auch zu kurz gegriffen ist, zu sagen, eine Einmalzahlung wirke ja wie ein Konjunkturprogramm. Wer von den 150 Euro eine Stromrechnung bezahlt, die schon die erste Inkassoschleife gedreht hat, kurbelt die Konjunktur gewiss nicht an. Aber Schwachsinn lässt sich halt mit noch größerem Schwachsinn vorübergehend übertünchen.

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