Home Office ist Chance und Gefahr für Beschäftigte: Mehr Autonomie, mehr Druck
New Work Studien zeigen, dass das Arbeiten von zu Hause vielen Beschäftigten entgegenkommt. Zugleich führt es zu entgrenzten Arbeitszeiten. Und zur Entsolidarisierung
Unverzichtbar im ungeheizten Arbeitszimmer diesen Winter: Kollegin Murner
Foto: Nut Jindarat/Eyeem/Getty Images
Auch wenn es altmodisch klingt, soll hier zuerst von Heimarbeit die Rede sein. Nicht gleich von Homeoffice. Das Wort Heimarbeit gibt schneller kund, worin die Schwierigkeiten der Abgrenzung bestehen. Denn Heimarbeit wird hierzulande und überall auf der Welt unendlich viel geleistet. Sie umfasst gesellschaftlich notwendige und nützliche Sorgearbeit. Unbezahlt. Wäre Sorgearbeit vergütet, setzte sie weltweit dreimal so viel um wie der IT-Sektor, hatte Oxfam 2020 ausgerechnet.
So betrachtet, stellt sich die Debatte über die Vorteile und Fallstricke des Homeoffice etwas anders als gemeinhin dar. Millionen Arbeitsstunden jedes Jahr, die zu Hause geleistet werden und den ganzen Laden überhaupt am Laufen halten. Überwiegend von Frauen abgeleistet. Nicht abgebildet
abgebildet im Bruttosozialprodukt, nicht vergütet und auch nicht anerkannt.Privatleben und Familie vereinbarenSeit Ausbruch der Pandemie wird viel über Heimarbeit geredet. Aber eben anders. Kurz zuvor noch arbeiteten gerade mal 13 Prozent aller Erwerbstätigen und rund zehn Prozent aller abhängig Beschäftigten in Deutschland gelegentlich von zu Hause, konstatierte das Institut der Deutschen Wirtschaft. Im Februar 2021 waren es bereits 49 Prozent. Laut DGB nährt sich der Wunsch, in den eigenen vier Wänden zu arbeiten, vor allem daraus, Privatleben und Familie besser vereinbaren zu können. Der Umkehrschluss ist klar und nicht überraschend. Im Rahmen unserer Wirtschaftsweise lässt sich das sonst meist nur schwierig hinbekommen.Viele sind auf den Geschmack gekommen und finden Heimarbeit gut. Es sind weiterhin und auch ohne Lockdown und strenge Coronaregeln rund 50 Prozent aller Erwerbstätigen, die ganz oder teilweise so arbeiten. „New Work“ ist eine schöne Wortverbindung dafür, wenn auch nicht ganz stimmig. Denn Heimarbeit hat eine lange und zum großen Teil ziemlich elende Geschichte, die ganz zwingend mit Ausbeutung und Armut zusammenhängt. Ist das schon vergangen und vorbei?Heute möchten neun von zehn Befragten auch künftig gern ganz oder teilweise im Homeoffice arbeiten. Das spart auch klimaschädliche Treibhausgase. Bis zu 3,7 Millionen Tonnen könnten so hierzulande jährlich vermieden werden, hat das Öko-Institut herausgefunden.Das will der Arbeitgeber-CheflobbyistDas hatte der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall Stefan Wolf wohl nicht im Sinn, als er vor Kurzem auf die nicht allzu glorreiche Idee kam, die Leute im Fall einer Gasmangellage zu Hause arbeiten zu lassen, damit das Unternehmen Strom spart. Das klingt erst mal bizarr: So, als könnten die Leute bei sich zu Hause im Wohnzimmer eine Fertigungsstraße aufbauen.Aber Wolf denkt an Bürokräfte und macht dabei eine so schöne Milchmädchenrechnung auf, dass man dem Mann dankbar sein sollte. Er hat nämlich etwas auf den Punkt gebracht, was viele Unternehmen einpreisen, wenn sie sich gegenwärtig und sicher auch in Zukunft flexibel zeigen in Bezug auf Gewährung von Homeoffice. Es spart ihnen die einen und anderen Kosten. Warme Büros vorzuhalten ist in großen Mengen schon ein Kostenfaktor. Und schöner, wenn sich jede und jeder zu Hause einheizt. Überhaupt ist das Vernutzen der eigenen Wohnung für Arbeit, die einem Unternehmen oder einer Behörde zugutekommt, ein Nutzenfaktor. Freiberufler:innen können viele Lieder davon singen. Wer einen Text verkauft, ein Layout, ein Lektorat, kann schlecht eine „Kilometerpauschale“ für die Nutzung der eigenen Räume und Ressourcen auf die Rechnung schreiben.Die Gefahr der EntgrenzungDer jetzt anstehende – und in Teilen bereits eingeleitete – Paradigmenwechsel in Richtung weiterer Flexibilisierung der Arbeit durch die Ermöglichung von Heimarbeit ist nicht aufzuhalten. Er hat unbenommen seine guten Seiten. Das bestätigen viele Umfragen. Viele Menschen wissen die neu gewonnene Freiheit – die im Wesentlichen in Zeitersparnis (keine Arbeitswege, digitale Teamsitzungen sind oft effektiver), größerer Autonomie bei der Einteilung der Arbeit und für viele besserer Vereinbarkeit von häuslichen Pflichten (Care) und Job besteht – zu schätzen. Und viele trauen sich zu, die damit verbundene Gefahr völliger Entgrenzung (vom Bett an den Schreibtisch und vor dem Schlafengehen noch eine Runde am Computer) einschätzen und ihr widerstehen zu können.Dass viele Unternehmen sich dem Modell Flexibilisierung durch mehr Heimarbeit gegenüber so aufgeschlossen zeigen, wäre ausreichend Grund, sich die Frage zu stellen, warum sie das tun. Gereichte es ihnen nicht zum Vorteil, täten sie es nicht.Heimarbeit bis in die NachtInteressant ist, was der Sozialforscher Dieter Sauer und Richard Detje, Mitarbeiter der Wissenschaftlichen Vereinigung für Kapitalismusanalyse und Gesellschaftspolitik, in ihrem Jahrbuch Gute Arbeit 2022. Arbeitspolitik nach Corona. Probleme, Konflikte, Perspektiven schreiben. „Mobile Arbeit wurde in der Corona-Krise zum zentralen Instrument der Absicherung von Beschäftigten jenseits der unmittelbaren Produktion. (…) Zweimal wurden die Beschäftigten aus den Büros relativ zügig und in großer Zahl in den privaten Haushalt zur Erledigung ihrer Arbeitsaufgaben geschickt. In vielen Fällen ohne Abstimmung mit den Betriebsräten. Meist wurde dies von einem großen Teil der Belegschaften ausdrücklich eingefordert. (…) Die Pandemie hat den Umbruch in der Unternehmenssteuerung erheblich beschleunigt.“ Ihre Schlussfolgerung: „Der Umbruch vom Kommandosystem mit direktem Kontrollzugriff zu indirekten Steuerungssystemen mit höherer Autonomie für die Beschäftigten ist eine wesentliche strukturelle Voraussetzung für eine breitere Durchsetzung mobiler Arbeit. (…) Der Druck, im Homeoffice die geforderte Produktivität unter Beweis zu stellen, ist enorm und wird im Zweifelsfall durch die Verlängerung der Arbeitszeiten in die Abend- und Nachtstunden kanalisiert.“IG-Metall Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban wird in dem Buch so zitiert: „Die Grenzen zwischen Arbeits- und Lebenszeit verschwimmen weiter, die Kontrolle von Arbeitsschutzrechten (etwa der Bildschirmergonomie oder Arbeitsumgebung) wird erschwert und digitale Überwachungsmöglichkeiten werden erleichtert. Die mobile weitgehend digital stattfindende Arbeit wird eine neue Ära der ‚Kolonialisierung der Lebenswelt‘ (Jürgen Habermas) einleiten.“Löhne und KapitalismusDamit stehen drei große Fragen im Raum: Wie werden sich künftige Verteilungs- und Arbeitskämpfe gestalten, wenn die Arbeiter:innenschaft schon vorher und über einen langen Zeitraum hinweg zum Komplizen ihres natürlichen Gegners (denn egal, wie gut der Lohn ist, er muss! im Kapitalismus ein Ausbeutungslohn bleiben) gemacht wurde? Wie gut sind die Gewerkschaften auf eine mit der Heimarbeit verbundene Dezentralisierung all jener vorbereitet, deren Interessen sie vertreten sollen? Und wie kann die Solidarisierung mit all den anderen Menschen aussehen, deren Arbeit systemrelevant, ja systemrettend ist und nicht am häuslichen Schreibtisch erledigt werden kann? Medizinische und pflegende Berufe zum Beispiel oder die so oft zitierte Kassiererin (die bald durch eine Zahl-App ersetzt werden könnte), schließlich die Menschen, die uns den Müll vom Hals schaffen und all die, die unsere Kinder betreuen und bilden.Es ist notwendig und zeitgemäß, über neue Formen der Arbeit nachzudenken. Die Ermöglichung von Heimarbeit gehört dazu. Richtig ist aber auch, dass in diesem Wirtschaftssystem eine Folge sich ausweitender Heimarbeit sein wird, dass die Kluft zwischen blue und white collar workers (also zwischen Arbeiter:innen und Angestellten) noch größer wird, vor allem da, wo Arbeit bereits jetzt unterbezahlt und prekär ist.Der Gewerkschafter Urban sieht die Notwendigkeit einer „umfassenden Gestaltungs- und Humanisierungsoffensive“. Denn mehr Zeitsouveränität bedeutet nicht automatisch weniger Ausbeutung. Im Gegenteil. Im Normalfall wird sich die Selbstausbeutung einfach dazugesellen.Während der Pandemie wurde Homeoffice oft mit der damit einhergehenden Kontaktreduzierung begründet. Das war gut und richtig. Aber Kontaktreduzierung hat langfristig auch noch ein anderes Gesicht. Das der Entsolidarisierung und Vereinzelung. In einem System, wo alles erkämpft und erstritten werden muss, was die Lage der Menschen mit mittleren, unteren und ganz üblen Einkommen verbessert, ist das nicht gut.