Das Gebot der Stunde: Den Krieg in der Ukraine unterstützen
Meinung Wer derzeit für Abrüstung eintritt, hat es schwer. An vermeintlich einfachen Erklärungen für den Krieg in der Ukraine mangelt es nicht. Aber helfen sie wirklich weiter?
Waffenlieferungen führen zu mehr Zerstörung, mehr Toten – aber führen sie auch zum Frieden?
Foto: Roman Pilipey/Getty Images
Vor knapp einem Jahr titelten Zeitungen: „Deutsche wollen wehrhaften Frieden“. Eine Allensbach-Umfrage hatte ergeben, dass mehr als 60 Prozent der Westdeutschen und rund 30 Prozent der Ostdeutschen Abschreckung durch eigene militärische Stärke für geboten halten. Nachdem Russland mit dem Angriff auf die Ukraine Völkerrecht gebrochen hatte, war DER Frieden einmal mehr ein uneingelöstes Versprechen. Neu jedoch, wie viele Menschen sich in kosmischer Geschwindigkeit von der Vision einer abgerüsteten Welt verabschiedeten. Vielleicht lag dieser Abschied auch an jener Sorte Fragen, die eine komplizierte Realität geradezu unbotmäßig vereinfachten. „Wollen Sie einen wehrhaften Frieden?“
Überschriften, die mit „Deutsche w
Deutsche wollen“ anfangen, lösen immer sehr unterschiedliche Reaktionen aus. Und angesichts mangelnder direkter Demokratie ließe sich auch sagen: Sollen sie doch wollen. Was die Politik sehr oft genauso tut. Passt es ihr in den Kram, was Deutsche so alles wollen, ist es fein. Gefällt es nicht, lässt sich anders behelfen. Das Drehbuch ist Teil der parlamentarisch-politischen DNS.Aus den Angaben wurde damals wie heute geschlussfolgert, dass der Glaube an Abrüstung als Mittel zum Frieden geschwunden sei. Ein gewagter Quantensprung, der wiederum Ausgangspunkt dafür sein durfte, jenen Naivität vorzuwerfen, die mit dem Begriff Abrüstung nicht brechen wollten. Schlimmer noch, sie dafür mitverantwortlich zu machen, dass es überhaupt zu diesem Krieg kommen konnte. Wer sich heute traut, zuzugeben, Pazifistin oder Pazifist gewesen oder gar immer noch zu sein, wer der Abrüstung das Wort redet, muss den 360-Grad-Blick beherrschen, um gewahr zu werden, woher der nächste Angriff erfolgen wird. Und sich entweder ducken oder tapfer eine reinsemmeln lassen.Im Januar 2023 meldeten die Medien, dass es in Deutschland keine Mehrheit für eine Steigerung der Waffenlieferungen gebe. Die Frage, ob die Unterstützung der Ukraine mit Waffen zu weit gehe, beantworteten 23 Prozent der Befragten (West) und 40 Prozent (Ost) mit Ja. Dann gab es aber noch diesen Security Radar 2023, demzufolge die deutsche Öffentlichkeit die Zeitenwende unterstützt. Erstmals seit Jahrzehnten befürworte eine Mehrheit der Deutschen die Steigerung der Verteidigungsausgaben, während die öffentliche Meinung und Debatte eine starke Kontinuität der Kultur der Zurückhaltung zeige. Womit wiederum die Kontinuität der auch künftig verlässlichen Unterstützung der Zeitenwende infrage gestellt sei. Inzwischen, so der Radar, sei eine hauchdünne Mehrheit der Bevölkerung für weitere Waffenlieferungen an die Ukraine.Frieden schaffen mit Waffen?Ist also der komplette Wechsel von „Frieden schaffen ohne Waffen“ hin zu „Frieden schaffen mit Waffen“ vollzogen? Auf diese Frage gibt es keine belastbare Antwort, aber man darf das Problem sehr wohl bewundern. Es ist nämlich groß. Größer, als die Politik weiszumachen versucht. Und daran ändert auch nichts, dass es so schnell vermeintlich gut gelungen ist, alle in eine Schublade zu packen, die aus den unterschiedlichsten Beweggründen und mit himmelweit voneinander entfernten Argumenten an der Art und Weise, wie die Zeitenwende gehandhabt wird, zweifeln. Wer da einmal reinsortiert wurde, weiß, wie schwer es ist, wieder rauszukommen.Alles ist fürchterlich schwierig und widerspricht in dieser Komplexität der schlichten Gut-schlecht-Dichotomie (wer nicht für ist, ist gegen) vieler Talksshows und mindestens ebenso vieler Reden, die mit „Deutsche wollen“ anfangen. Es ist wirklich nicht einfach zu wissen, was gewollt wird. Hält allerdings nur wenige davon ab, zu behaupten, sie wüssten es. Politische Handlungsfähigkeit und normative Verlässlichkeit hängen in dieser Gegenwart wesentlich davon ab, das Komplexe so lange zu reduzieren, bis alles moralisch und faktisch eineindeutig ist.Von Walter Benjamin stammt die Erkenntnis: „Handeln lässt sich aus vorbehaltloser Bejahung heraus; denken nicht.“ Benjamin ist aber auch schon lange tot. Und gegenwärtig ist vorbehaltlose Bejahung das Gebot der Stunde. Denn es muss gehandelt werden. In dem Buch Die Vereindeutigung der Welt schrieb der Kulturanthropologe Thomas Bauer: „Viele Menschen, denen immer alles erklärt wird und denen eine Welt ohne Geheimnisse, ohne Unerklärbares und Überkomplexes vorgegaukelt wird, glauben schließlich selbst, alles zu verstehen.“ Von da bis zu der Überschrift „Deutsche wollen …“ ist es nur ein winziger Schritt, wenn die Frage: „Was wollt ihr?“ nur schlicht genug formuliert war.Man könnte es politisch gewünschte Repräsentativitätsheuristik nennen, also die Neigung, verständliche Erklärungen für wahrscheinlich zu halten. An vermeintlich eindeutigen, die Komplexität von Problemen außer Acht lassenden Erklärungen mangelt es nicht. Wenn man die oft genug wiederholt, kann es klappen. Und wenn man dann noch bereit ist, die „unterkomplexen“ Bürgerinnen und Bürger vorzuschieben, wie FDP-Chef Christian Linder mit der Erklärung, warum sein Verkehrsminister die Klimaziele nicht schafft – „es sind die Bürgerinnen und Bürger, die die Klimaziele nicht erreichen“ –, wird es eine Zeit lang sogar funktionieren.