Nein", sagt der Mann hinterm Tresen, "Herr Jockisch ist nicht da." Der Tresen ist die Barriere, und der Mann hat einen Arm wie Napoleon drapiert. Quer über seine Uniform. "Herr Jockisch kommt erst in vierzehn Tagen wieder. Er ist im Urlaub. In Österreich. Vierzehn Tage lang." Napoleon beobachtet mich und wartet auf eine Reaktion. "Das ist", sage ich, "nicht möglich. Wir sind verabredet. Herr Jockisch und ich. "Aber Österreich", lächelt Napoleon. "Da ist er nun mal. Sie müssen in vierzehn Tagen wiederkommen." Dann streckt er den Arm aus und reicht mir die Hand. Auf dem Namensschild am Revers steht Jockisch. Claus Jockisch. So hat Napoleon die Rollen festgelegt. Gleich zu Beginn des Gesprächs.
Der Weg zu den Hochhäusern am Springpfuhl führt durch einen langen Tunnel. Der saugt die Kommenden auf dem S-Bahnsteig ein, geleitet sie an der Palim-Palim-Klage einer E-Gitarre vorbei und spuckt sie auf den Marktplatz, den sich deutsche und vietnamesische Händler teilen und der zudem Asyl für Männer ist, die sich an kalten Tagen im Pizza-Express und sonst draußen am Stand Mut für die nächste Hürde im Leben antrinken. In den Einkaufsarkaden neben dem Marzahner Rathaus gibt es einen Aldi. Wenn neue Ware kommt, stehen schon zeitig die ersten vor der Tür, um einen Einkaufswagen zu ergattern. Aber nur die, die sich nicht zu fein dafür sind.
Hochhäuser drücken dem Helene-Weigel-Platz in Marzahn einen Stempel auf, den man nach Belieben grandios oder bedrohlich finden kann. Aus den oberen der 25 Etagen überfliegt der Blick ungehemmt weite Weiten. Über die Gleise hinweg fängt ihn nichts. Viele sind Marzahner aus Überzeugung. Aber ein paar Tausend haben in den vergangenen anderthalb Jahren diese Überzeugung verloren. "Wenn die Vietnamesen jetzt schon vor dem Rathaus Zigaretten verkaufen", sagt ein Einzelhändler in den Arkaden, "läuft doch irgendwas falsch." Und schickt hinterher, dass was passieren müsse.
Das haben sich nicht nur die Händler mit ihrer Sorge um die Reputation des Ortes gesagt, sondern auch die, denen die Wohnmale am Springpfuhl gehören. Alles sollte im Gleichgewicht bleiben. Ein zu hoher Leerstand, das wissen Wohnungswirtschaftler, ist Feind jedes Gleichgewichts. Dann kippt das Milieu, sagen sie, und dieser Satz klingt sehr bedrohlich. Niemand will, dass es kippt, dafür ist der Stadtteil zu groß. Maßnahmen müssen ergriffen werden von der Wohnungsbaugesellschaft Marzahn, der allein rund 32.000 Wohneinheiten gehören, wie es in der Sprache der Bewirtschafter heißt. So ein Hochhaus am Helene-Weigel-Platz zum Beispiel beherbergt mehr als tausend Menschen. "Ein größeres Dorf, hochkant gestellt", sagt Herr Jockisch.
Ein Dorf braucht eine gute Seele, jetzt, wo man auch einfach woanders hin ziehen kann. Zur Konkurrenz gehen, die Eigenheime im Landhausstil baut, Häuser nach schwedischem Vorbild, Träume nach amerikanischem Muster oder Wohnungen mit Laminat, hohen Wänden und Wohnküchen vermietet.
Es gibt Möglichkeiten, Bindung herzustellen an Wohnungen mit genormtem Grundriss. Deren Mangel an tragenden Wänden macht den Grundriss plötzlich zur Spielmasse - WBS 70 mit amerikanischer Küche. Wie klingt das? Man kann Farbe ins Spiel bringen. Man kann an den Balkonen und Loggien das Spiel mit dem Raster wagen, Kunst zwischen die Häuserschluchten stellen, Wochenmärkte mit Fisch aus Bremerhaven genehmigen, eine überdachte Shoppingmeile mit Cafés bauen lassen und einheimische Hölzer pflanzen.
Und dann kann man die gute Seele suchen für das Hochkant-Dorf. So jemanden wie Herrn Jockisch, der seit 1984 bei der Truppe dabei ist. Hausmeister der KWV und immer am Helene-Weigel-Platz 13. Hinz und Kunz kennen ihn. Herr Jockisch ist die ideale gute Seele, es braucht nur noch einen Namen, um das allen klar zu machen. Da ist man auf Concierge gekommen. Es ist klar, was sich damit alles verbindet. Kommissar Maigret und seine wichtigste Zeugin aus dem Souterrain - gewichtig und laut oder verhuscht und ängstlich. Der Doorman aus den New Yorker Häuserschluchten mit einer Mütze und goldenen Jackenknöpfen. Sie alle bedienen seit jeher zwei Wünsche: Solch dienstbare Geister werten zum einen das Image derer auf, die sich ihrer bedienen dürfen und das Image der Gegend noch dazu. Und dann ist da zum anderen die Frage der Sicherheit. Oder besser, des Sicherheitsgefühls. Den Verlust eben jenen diffusen Gefühls beklagen die Menschen. Ihre Angst nährt sich aus einer ganzen Palette von Möglichkeiten, die sie für Wahrscheinlichkeiten halten. Man könnte abends überfallen werden auf einer menschenleeren Straße. In der Gegend herumhängende Jugendliche könnten eine Bedrohung sein. Die Handtaschenräuber und Autodiebe sind schon da.
Es geht nicht, diese Ängste auszuräumen. Statistiken helfen nicht, einbruchsichere Türen nur ein bisschen, eine immer ordentlich abgeschlossene Haustür gibt es nicht. Das weiß jeder. Es sei denn, jemand passt auf, wer sie abschließt, und weiß, wer ins Haus gehört und wer nicht. Jemand wie Claus Jockisch, den alle im Hochhaus kennen und der alle kennt. Er öffnet jeder Bewohnerin und jedem Bewohner die Tür. An der unteren Tischkante seines Tresens ist ein Knopf, den findet er blindlings, drückt drauf und sagt dabei etwas zu den Ankömmlingen. "Hallo, schöne Frau", sagt er zum Beispiel oder "Frau Doktor, Sie wünschen?" oder "Da kommt meine Post-Lucie". Und er sagt: "Ehrensache, Herr Brand, ich kümmere mich" und "Die Post ist durch, Frau Keßler". Er sagt immer was und am allerliebsten sagt er "Danke für Ihre Stimme", wenn wieder jemand die Reklamezettel aus dem Briefkasten in den Schlitz auf Herrn Jockischs Tresen entsorgt. Darüber lächeln oder lachen fast alle.
Herr Jockisch ist genau das, was die Wohnungsbaugesellschaft wollte: Eine Institution, einen, der das Haus vom Keller bis zum Dach kennt, der als gelernter Stahlbauschlosser mal schnell eine kleine Reparatur erledigen kann, die Macken der Fahrstühle durchschaut und Brötchen für die älteren Herrschaften kauft, wenn sie es wünschen. Einer, der die Pakete von der Post, von UPS, Hermes, Neckermann und Otto entgegennimmt, regelmäßig Rundgänge macht und den Schlüsseldienst anruft, wenn jemand nicht in die Wohnung kommt. Er ist der Herrscher der Eingangshalle, das Willkommen hinterm Concierge-Tresen. So einer sieht die Leute kommen, sich einrichten und einleben und manchmal - ganz selten - sieht er, wie einer mit den Füßen voran das Haus wieder verlässt. Für immer. "Das", sagt Herr Jockisch, "ist auch das Leben". "Da kommt unser Professor", flüstert er dann.
Der Herr Professor hat die Journalistin schon gesichtet und kommt ganz nah heran, um zu schnuppern, ob sie gut riecht und Fragen zu stellen. "Wo kommen Sie her, für wen schreiben Sie, haben Sie Kinder, hat Ihr Mann Arbeit?" Dem Concierge gefällt die Fragestunde, der Herr Professor ist ein wahrer Charmeur. "Wie alt sind Sie Herr Professor", fragt der Jockisch. "75", antwortet der Professor und prüft die Reaktion der Journalistin. "Na da sind Sie aus dem Gröbsten raus", sagt der Jockisch und lacht mit dem Professor das verschwörerische Männerlachen.
Links vom Tresen sind die Briefkästen angebracht. Links vom Tresen kann man beobachten, wie es den Leuten geht. Die guten Mutes sind, dass was im Briefkasten liegt, sehen anders aus als jene, die wissen, dass sie einfach immer leer ausgehen. "Hat der Liebste geschrieben?", fragt Herr Jockisch eine ältere Frau. "Ne", lacht die und droht mit dem Zeigefinger, "Herr Jockisch, Sie immer!" Manche greifen, ohne zu schauen, das Papier, um es in den Müllschlitz am Tresen zu werfen. Kein Brief kann sich darin verirren. Sie wissen es genau.
Der hinter Glas verschwundene Herr Professor hat dem Concierge zwei Kugelschreiber mitgebracht. Mit einer Aufschrift drauf. "Die", sagt Herr Jockisch, "sammle ich. Kugelschreiber mit Aufschrift. Ich sortiere sie danach, mit welchem Buchstaben die Aufschrift anfängt und schreibe das in meine Kladden. Da sind eine Menge Firmen dabei, die es schon nicht mehr gibt. Pleite, aber Jockisch hat den Kugelschreiber." 1.1000 Stück sind es inzwischen, und das könnte ja rekordverdächtig sein, wenn nicht eine Frau in den USA schon 57.000 hätte. Wie soll er das schaffen? Kugelschreiber sind klein und handlich, und die Chance, dass einem die Mieter immer mal wieder einen schenken, ist groß. "Ich kenne ja einen, der sammelt Zollstöcke. Also die nähmen mir zuviel Platz weg. Wenn ich mit meiner Frau nach Österreich in den Urlaub fahre, bringe ich auch viel mit. Wir fahren ja immer wieder nach Österreich und immer an die gleichen Orte. Ich kenne da alle und habe ein gutes Verhältnis zu einer Serviererin. Mit der tausche ich Kugelschreiber." Herr Jockisch und Österreich. Das ist ein wichtiges Thema. Er ist da so gern und so oft, wie es geht, die Urlaubspläne es zulassen. Rauf auf die Berge, und wenn es klappt, immer ins gleiche Hotel. Ein richtiger Preisknüller, und dann die Frau, die ein Fan von Hansi Hinterseer ist, dem Skirennläufer, der heute singt. Niemand dürfe in Anwesenheit seiner Frau etwas Schlechtes über Hansi Hinterseer sagen. Das sei geradezu verboten, denn "der Hansi", sagt Herr Jockisch, "ist wirklich ein feiner Mensch. Mit dem kann man reden, der ist so natürlich, und die Musik, wirklich, wir hören die gerne und waren auch schon backstage, wenn der aufgetreten ist." Dann guckt der Concierge etwas verträumt durch die Grünpflanzen im Vorraum raus in Richtung Allee der Kosmonauten. Der Wind macht ein hohes Geräusch, einen Ton, wie auf der Bandsäge gespielt. Der ist immer da, und der Concierge hört ihn schon lange nicht mehr, den Ton.
Und dann kommt ein Mann mit brauner Lederjacke und einem Pudel auf dem Arm und$eine Frau hinterher. "Dme ist Wolfgang Petri-Fan", sagt Herr Jogkisch. "Ick bin jetzt alleine Herr Jockmsch", sagt die Frau. "Hebe meinen Mann nach Stuttgart geschickt. Jetzt geht's mmr gut." Dann lacht sie laut und geht nach oben. Sie ist Krankenschwester. Eine fröhliche Kranoenschwewter und Strohwitwe. Herr Jockisch weiß, was er mn den nächsten Tagen immer zu ilr sagen wird, wenn sie vorbeikommt. Er wird sie zum Lachen bringen.
Wenn gerade niemand kommt, schaut der Concierge auf seinen Beobachtungsbildschirm, der in 16 Quadrate unterteilt ist. Jedes Quadrat ein Sicherheitsbereich, den man im Auge behalten muss. Wenn was komisch aussieht, zoomt man sich das Ganze ran und kriegt die halbe Welt rundherum an den Tresen: Haus und Fahrstuhl aus zwei Blickwinkeln, die Vorderfront vor der 13, den Notausgang hinten, den Eingang von der 14, die gesamte Freifläche vor der 14, den Hinterausgang von der 14, den Notausgang von der Einkaufspassage, den Ausgang der Passage zur Allee hin, den Weg runter zur Passage, den Seiteneingang zur Passage, den Zeitungsladen und - das liebste Bild für die Mieter - den Teil der Passage, wo es zu Aldi geht. Mittwochs, wie gesagt, wenn die Sonderangebote kommen, stellen sich manche einen Stuhl hin und warten auf einen Einkaufskorb. "Da kannste was sehen", sagt Herr Jockisch und packt die neuerworbenen Kugelschreiber des Tages ein.
In den Pausen isst er die mitgebrachten Brote. Die macht ihm die Frau, mit der er seit 35 Jahren verheiratet ist. Er ist ein glücklicher Mensch. "Mir geht es gut", sagt Herr Jockisch, "ich bin gesund, ich habe Arbeit, die Kinder sind groß, die Arbeit macht Spaß und wenn ich mal einen schlechten Tag habe, gehe ich öfter in den Keller. Post ist durch", sagt Herr Jockisch und "na junge Frau, wieder den ganzen Laden leergeräumt?"
Wenn abends die Gaststätte in der Passage zumacht, schließt der Concierge auch dort die Türen. Er schaut in die Müllräume und kontrolliert die Brandschutztüren. Das Sicherheitsbedürfnis ist auch hier größer geworden, aber das ist ja normal in diesen Zeiten. Und einer wie Herr Jockisch kann das Bedürfnis stillen. Wenn einem nachts schlecht wird, kann man ihn anrufen oder wenn da so ein komisches Geräusch ist.
"Der Herr Jockisch", werden sie dann am nächsten Morgen erzählen, "ist gleich gekommen und hat nach dem Rechten geschaut."
Dem Einzelhändler ist das alles noch zu wenig. Der will, dass die Vietnamesen nicht mehr vor dem Rathaus Zigaretten verkaufen. "Da läuft was schief", sagt er. Und "wir haben einen Verein gegründet." Einen Verein für den Springpfuhl. Damit Leben an den Platz kommt, nur eben nicht so, wie es da vor dem Rathaus ist.
Dann geht man wieder über den Markt zum S-Bahn-Tunnel. Die Vietnamesin hat noch keinen ihrer Pullover verkauft, der Fisch aus Bremerhaven ist abgereist, und im Pizza-Express spielt die nächste Hürde des Lebens keine Rolle mehr. Alles Milieu. Von Kippen keine Spur.
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