Die Lücke, die der Teufel lässt

Grün/Blau Das Wendland (West) grenzt an die Altmark (Ost). Dort geht ein Riss durchs Land. Man sollte einmal rüber fahren
Ausgabe 23/2019

Der Punkt, an dem sich ein System zwischen zwei scheinbar gleichwertigen Möglichkeiten der Weiterentwicklung entscheiden kann, wird Bifurkationspunkt genannt. In den Wochen und Monaten vor der Europawahl haben wir uns eingeredet, es gäbe diese zwei gleichwertigen Möglichkeiten. Nun, so scheint es, verlängerte man den Punkt und nennt ihn Grenze, als hätte das System sich hüben so und drüben anders entschieden. Im Osten entwickelt man sich blau, im Westen grün.

Die AfD spaltet Deutschland, steht in den Zeitungen. Eine Verkehrung der Dinge, macht sie sich doch einfach nur vorhandene Spaltung zunutze. Aber so klingt es schöner. Schöner klingt es auch, wenn Politikwissenschaftler wie Hans Vorländer uns erzählen, es läge unter anderem daran, dass es im Osten kein gefestigtes Parteiensystem gäbe, demzufolge weniger Bindung an klassische Parteien, und festgefügte gesellschaftliche Milieus seien hier auch rar. Zumindest auf dem Land.

Wir könnten uns darüber Gedanken machen, ab wann eine Partei als klassische Partei gilt und wie viele Jahre noch vergehen müssen, bevor wir der AfD zugestehen werden, eine zu sein. Sie gilt ja gegenwärtig noch als Lückenpartei, etwas, das sich in einem entstandenen Vakuum explosionsartig ausbreiten konnte, einfach weil da nichts ist, was es daran hindern könnte.

„Geht’s noch, Europa?“

Alle Arroganz, derer wir fähig sind, liegt in der Behauptung, dort, im östlichen Nimmerland, gäbe es keine festgefügten gesellschaftlichen Milieus. Nur weil die Milieus uns nicht gefallen, sagen wir das. Wissen tun wir es nicht. Als die AfD in den Deutschen Bundestag einzog, konnte sie das mit 3,9 Millionen Stimmen aus den alten und 1,9 Millionen Stimmen aus den neuen Bundesländern tun. Dort die festgefügten gesellschaftlichen Milieus, da nicht. Verrückt, oder?

Dann lesen wir noch, die AfD liefere verunsicherten Menschen klare Antworten. Verunsichert klingt, als ließe sich da noch was tun. Aber was, wenn die Menschen gar nicht verunsichert sind, stattdessen sicher, eine gute Entscheidung getroffen zu haben? Und was, bitte schön, sind klare Antworten? Diese zwei Worte etwa, mit einem Ausrufezeichen: Grenzen sichern! Heimat bewahren! Oder: Geht’s noch, Europa? Wie kommen wir dazu, einer Partei, die keine Antworten hat, stattdessen als Verstärkerin aller blöden und weniger blöden Fragen fungiert, zuzuschreiben, sie biete klare Antworten? Sie antwortet. So viel ist klar. Mehr nicht. Nur: Ein Raum, in dem niemand sonst das tut, wirkt wie ein Verstärker.

An einem Himmelfahrtswochenende kurz nach der Europawahl lässt sich im grenzüberschreitenden Verkehr eine schöne Zeitreise machen. Von der Altmark ins Wendland und zurück in die Altmark. Kurz hinter Salzwedel, einer ostdeutschen Stadt, in der sich Antifa und Rechte tatsächlich noch erbitterte Kämpfe liefern, vorbei an dem Schild, das darauf hinweist, dass Deutschland hier bis 1989 geteilt war, wechselt man vom Schwarz-Blau- ins Grünland.

Am Himmelfahrtstag beginnt im Wendland die „Kulturelle Landpartie“: „Fernab von rauschenden Autobahnen, Hektik und teuren Mietwohnungen liegt zwischen Elbe und Jeetze unser besonderes Fleckchen Erde, mit frischer Luft, Wald, Wiesen und jeder Menge Möglichkeiten, auch verrückte Pläne umzusetzen“, heißt es im Reisebegleiter, der 400 Seiten zählt.

Verrückte Pläne hat auf der anderen Seite der einstigen Grenze kaum jemand. Wenn man mal davon absieht, dass hier fast jeder große Acker (es gibt viele große Äcker) mit europäischen Fördermitteln gedüngt wird und jede Monokultur sich aus den Töpfen der EU speist. Was ja verrückt genug ist. Monokultur frisst Menschen und gibt dem Landtechnik-Weltmarktführer John Deere die Hoheit übers Land.

John Deere lässt Dreck fallen

Ausgerechnet hier, wo die EU so segensreich, wenn auch wider die Natur wirkt, wollen die Menschen also nix von ihr wissen. Sind die undankbar und doof, oder ist vielleicht irgendwas schiefgelaufen mit der Gemeinsamen Agrarpolitik GAP? Die Tierfabriken, die Biomasse-Anlagen, die Maisfelder, die Großbauern, die nur selten Westimporte sind, die Gemeinderäte, die freiwillig ihr Vorkaufsrecht für Flächen abschaffen, die Lücke, die der Teufel lässt, und ach, die ganze Geschichte im Gepäck. In der Altmark keine Lust, eher eine Last.

Zumindest nicht viel da, was sich ins Positive wenden ließe, sodass die Lethargie den Platz räumen würde für eine Idee. Oder gar viele Ideen. In der DDR eingerichtet. Knurrig, ein bisschen widerständig hie und da, nicht aufmüpfig, kein Reichtum, nicht prosperiert (war schließlich Zonenrandgebiet), aber auch nicht ganz schlecht. Die Kneipen, die Kulturhäuser, das Beziehungsgeflecht – gibst du mir, geb ich auch –, die Arbeit für jedermann und jede Frau, die Kindergärten und Schulen, der Garten am Haus, Spargel vielleicht, das Ambulatorium, für wenn man krank ist.

Die Wende. Mitgenommen, nicht wirklich mitgemacht. Gewendet worden sozusagen. Aber ja, endlich frei und nicht mehr zwangskollektiviert, und reisen können und Dinge tun, und endlich die Möglichkeit, die mühsam instand gehaltenen Häuser und Hütten aufzumöbeln. Als Erste kommen die Verkaufswagen mit den nagelneuen Türen und Fenstern, Ölheizung statt Kachelofen, und hier ist es doch schön, mit den vielen Wäldern, dem Ackerboden und der D-Mark.

Aber dann beginnt die Abwanderung. Leer wird es in der Altmark, die toten Häuser in den Dörfern erzählen die einen Geschichten, das Fernsehen andere. Vererbt wird auch hier ein bisschen, aber was, wenn so viele das Erbe ausschlagen, gar nicht zurückkommen wollen? Ein Haus in der Altmark – ich weiß was Besseres.

Die Gemeinden hören auf, die Straßen zu fegen und die Gullys zu leeren. Da schleppen sich die Alten jetzt selbst und kehren den Dreck weg, den John Deere fallen lässt. Keine Kneipen mehr, in denen der eine so sagt und der andere so, und dann kann man sich – betrunken oder nicht – was aussuchen und eine Meinung bilden. Ich sehe was, was du nicht siehst, heißt in der Altmark: wetten, wie viele Menschen man auf 20 Kilometer Fahrstrecke auf der Straße sieht. Drei, fünf, keinen. Wer keinen nimmt, gewinnt andauernd.

Direkt an der Grenze zum Nimmerland macht die „Kulturelle Landpartie“ Halt. Oder fängt an, wie man es sehen mag. Sie speist sich aus der Geschichte, die zugleich der Gründungsmythos der Grünen ist. Anti-AKW-Bewegung, hier Proteste gegen das Endlager in Gorleben, 113 Kilometer entfernt gegen die Wiederaufbereitung im bayerischen Wackersdorf. Mai 1980 Ausrufung der Freien Republik Wendland. Konservative Bauern verbünden sich mit langhaarigen Umweltschützern, gelbe Holzkreuze an den Straßen, Widerstand allenthalben. Wem es beim Kämpfen richtig gut gefiel, der oder die blieb einfach hier und richtete sich ein.

Und dort? Beschloss die DDR-Regierung 1970, innerhalb von zehn Jahren ein drittes Atomkraftwerk zu bauen. Gleich nebenan bei Stendal. 1974 Grundsteinlegung, während die Bundesregierung schon damit begonnen hatte, einen Ort für Atomschrott zu finden.

Und als dann 5.000 Atomkraftgegner*innen zum „Kampftag der Wenden“ ins Wendland kamen, 1980, war das AKW in Stendal doch nicht, wie geplant, fertig geworden. Obwohl es hier gar keinen Widerstand gab. 14.000 Wohnungen waren bereits in Stendal und Osterburg gebaut. Für das Werk und die Menschen, die es zum Bau und später brauchen würde.

Das Wendland (Zonenrandgebiet auch) wurde vom niedersächsischen Innenminister zum „Hochverratsgebiet“ erklärt. Hier: Woodstock und erste Gehversuche mit Basisdemokratie. Dort: Die Regierung wird schon wissen, was sie tut. Das eine und das andere in die DNA eingebrannt. Bunt durcheinanderbevölkert da, unter sich geblieben hier.

Die „Kulturelle Landpartie“ gibt es seit 1989. Sie hat es bis heute nicht über die Grenze geschafft. Zu groß das Fremdheitsgefühl, zu wenig Gemeinsamkeiten. Wunderpunkte heißen die Orte im Wendland, die sich während der Landpartie öffnen und von Tausenden Menschen besucht werden. 100 Wunderpunkte gibt es inzwischen, in 70 Dörfern. Hier heißen die Wege auch mal Rudi-Dutschke-Straße, in der Altmark nach Ernst Thälmann, wenn sie nicht Dorfstraße heißen, weil alle anderen Namen abgewählt wurden.

Aber vielleicht färbt doch etwas ab. Im Altmarkkreis Salzwedel (69.387 Wahlberechtigte) kam die AfD auf 17,2 Prozent, wurde die CDU mit 24,6 Prozent stärkste Partei, die Grünen bekamen immerhin 8,8 Prozent, die Linkspartei 16,4. Für den Osten gar nicht so schlimm.

Im Wendland (39.000 Wahlberechtigte) sind die Grünen mit 28,6 Prozent stärkste Partei, dann die CDU, gefolgt von der SPD, und die AfD hat gerade mal 7,5 Prozent.

Könnte es sein, dass sich miteinander reden ließe? Gut möglich, dass in der Altmark die Wunderpunkte erst einmal „Wunde Punkte“ heißen müssten. Mit dem Fahrrad durchs Biomasse-Land und vor jedem geschlossenen Begegnungsort ein schwarzes Holzkreuz. Das Wendland wirbt für Menschen, die Nach- und Neunutzung von Höfen wagen wollen, und mit intensiver Beratung und Unterstützung, wenn jemand eine Idee hat.

Da stellt sich die Frage, ob es nicht eine gute Idee wäre, mal über die Grenze zu gehen. Verwehrt einem ja niemand mehr. In der Altmark nennen sie die Wendländer Wessis. Im Wendland glauben sie vielleicht, die Altmärker könnten nichts anderes als Hochzeitssuppe. Aber Bifurkationspunkt ist vielleicht immer noch. Müsste man ausprobieren.

Kathrin Gerlof arbeitet als Redakteurin bei der Monatszeitung OXI und als freie Autorin, schreibt Romane und ist häufig in der Altmark

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