Marion und Rainer leben in Potsdam in einer Mietwohnung. Ihrer beider Renten nach Studium und einem langen Arbeitsleben in der DDR und später großen BRD sind zusammengenommen gar nicht so schlecht. Sie kommen immer über die Runden, können sich Urlaub in einer Ferienwohnung im Inland leisten, hin und wieder ins Kino, alle paar Wochen sogar mal essen gehen. Sie sind nicht von der Zuzahlung bei Medikamenten befreit, weil es auch dafür reicht, haben einen Großteil ihrer bescheidenen Rücklagen mit Telekom-Aktien verloren, weil Manfred Krug behauptet hatte, die würden auch bescheidenen Sparguthaben einen ordentlichen Aufschwung verpassen.
Sie sind mobil und verbringen trotzdem im Schnitt 20 Stunden am Tag in ihrer Wohnung. Marion friert schnell, Rainer dreh
ainer drehte schon immer die Heizung runter, wenn sie nicht hinschaut. Sie kommen gut klar, weil sie sparsam leben, Rainer beim Einkaufen Preise vergleicht und auch mal den weiteren Weg in einen Supermarkt mit Sonderangeboten macht. Sie achten auf den Cent und schaffen es deshalb, ihren Kindern und Enkelkindern Geburtstagsgeschenke zu machen und ihren Urenkeln ein bisschen Taschengeld zu geben, einen großen Kuchen zu backen, wenn die zu Besuch kommen, ein ordentliches Mittagessen auf den Tisch zu stellen.Marion und Rainer haben für das, was nun ins Haus steht, noch eine kleine Reserve auf dem Konto. Von diesem Geld haben sie sich oft ihre kleinen Urlaube geleistet oder einen Hometrainer, damit sie beweglich bleiben und nicht krank werden. Sie haben schon in den vergangenen Jahren damit gerechnet, dass die Miete irgendwann steigen wird. Und die Energiekosten. Ihre Rechnung, dass sie das mit ihren Renten hinbekommen werden, bleibt es in überschaubarem Rahmen, ging bis jetzt noch immer auf.Vorbereiten. Aber worauf?Die Politologin Isabell Lorey hatte keine Gasversorgungskrise im Sinn, als sie darüber sprach, wie sich Prekarisierung anfühlt. Trotzdem beschreiben ihre Worte sehr genau, wie es gegenwärtig sehr vielen Menschen geht: „In der Prekarisierung verläuft die Zeit nicht linear. Die Zukunft ist nicht berechenbar, Prävention kaum möglich. Prekarisierung bedeutet improvisieren, gezwungen sein, das Unvorhersehbare zu ertragen; ein Leben nicht im Moment, sondern im ausgedehnten Jetzt.“Marion ist eher der ängstliche Typ, Rainer pfeift im Wald, wenn sich die Dinge aus seiner Sicht sowieso nicht ändern lassen. Allerdings liest er fast den ganzen Tag Nachrichten, was der Selbstermutigung oft im Wege steht. Er liest, dass der Präsident der Bundesnetzagentur sagt: „Es hat in dieser Woche keinen signifikanten Preissprung mehr gegeben, obwohl Nord Stream 1 abgeschaltet wurde. Das könnte bedeuten, dass die Märkte den Ausfall russischer Gaslieferungen bereits eingepreist und wir ein Gaspreis-Plateau erreicht haben.“ Die Märkte sind Marion und Rainer suspekt. Dass die nun ausmendeln sollen, was ein Krieg, eine für solche Notfälle dann trotz lebenslanger Arbeit vielleicht doch nicht ausreichende Rente, steigende Mieten, Lebensmittelpreise, Heizkosten angerichtet haben, kommt ihnen seltsam vor.Die Möglichkeit, vorzusorgen, setzt eine Fürsorge voraus, die es nicht zu kaufen gibt. Die müsste aber Teil aller Politik sein. Der Geschäftsführer des kommunalen Energieversorgers Chemnitz warnt vor sozialen Unruhen. Wenn für 2.000 seiner Kundinnen und Kunden demnächst der Vertrag auslaufe, müssten die pro Jahr 4.500 statt bisher 1.500 Euro für Gas zahlen. 900 Stadtwerke gibt es in Deutschland. Wer von Amts wegen keinen Anspruch auf Erstattung der Heizkosten hat, aber trotzdem nicht mal annähernd wohlhabend ist, auch über keine Sparguthaben verfügt, steht vor schwer lösbaren Fragen.Auf ihren täglichen Spaziergängen kommen sie an der Tafel vorbei und sehen, dass die Schlangen länger werden. Rainer sagt, eine alleinstehende Mutter habe ganz gewiss keine Chance, irgendwas abzufedern. Darüber hat er viel gelesen. Und er sagt auch, Banken würden sich wahrscheinlich freuen, weil die Dispozinsen ordentlich hoch sind und ganz sicher viele Menschen ihr Konto ins Minus fahren müssen, weil die keine Wahl haben. Die alleinstehende Mutter habe, sagt Rainer, nicht mal die Möglichkeit, Friseurgeld oder Fußpflege einzusparen, wie sie es tun können. Die kleine Rücklage abschmelzen, denn das letzte Hemd hat keine Taschen.Ratlosigkeit und viel AngstManches spricht dafür, dass Marion und Rainer durch die Energiekrise kommen werden. Die Tafel droht ihnen nicht, aber was sie dort bei ihren täglichen Spaziergängen sehen, bricht ihnen das Herz. Um das als ungerecht zu empfinden, brauchen sie keine Bilder von einer Hochzeit auf Sylt.Währenddessen mehren sich bei Bundestagsabgeordneten die Anfragen von Menschen, die unterschiedlich von steigenden Energiepreisen betroffen sind und unterschiedlich reagieren: „Werden Sie auch Molkereien zur kritischen Infrastruktur zählen? Wissen Sie, dass inzwischen eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung für die Nutzung der Kernenergie ist? Warum setzt die Bundesregierung mit immer neuen Sanktionen eine Armutsspirale in Gang, die in allererster Linie die eigene Bevölkerung trifft? Ist geplant, die autofreien Sonntage wieder einzuführen, wie anno 1973? (Es gab übrigens insgesamt nur vier davon.) Oder ein temporäres Tempolimit?“Bayerische Metzger schreiben, dass der Netto-Arbeitspreis von 4,6 Cent je Kilowattstunde Strom auf das Zehnfache steigt. Brandenburgische Glasmanufakturen, die Solarglas für Photovoltaikanlagen herstellen, verbrauchen täglich 420.000 Kilowattstunden auf der Basis von Gas.Unter allem liegen Ratlosigkeit und viel Angst. Es wäre Unsinn, die als unberechtigt zu diffamieren. Die Hoffnung, dass die Politik eine gerechte und auch noch wohlstandswahrende Strategie finden wird, hält sich in Grenzen. Zumal über die ungerechte Verteilung von Wohlstand als Ausgangspunkt möglicher Lösungen eher nicht diskutiert wird. Die Angst, dass es so kommen wird, ist also völlig berechtigt. Wer über ein solidarisches Umfeld in ausreichender Nähe verfügt, wird sie klein genug halten können, daran nicht zu verzweifeln. Und die anderen?