Die Geschichte meiner Mutter gehört dazu. Sie war noch minderjährig, als sie zum ersten Mal schwanger wurde, und meine Großmutter hat in erster Panik ob der Schande, die sich in einer Kleinstadt nicht verbergen ließ, alle Hausmittel bemüht, die sie aus der Überlieferung kannte und die sich unterhalb der Schwelle zur Kurpfuscherei bewegten. Ich kann von Glück reden, dass die heißen Bäder und der schlechte Rotwein nicht geholfen haben. Damals sollen in der DDR knapp 100 Frauen jährlich an den Folgen einer illegalen Abtreibung gestorben sein.
1972 verabschiedete die Volkskammer der DDR das „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“, und sie eröffnete damit zugleich den Frauen die Möglichkeit, kostenfrei die Pille zur Schwangerschaftsverhütung zu bekommen. Einen Monat später kam meine jüngste Schwester zur Welt. Meine Mutter, die bis dahin vier Kinder geboren hatte, gehörte zu den Ersten, die sich die Pille verschreiben ließen. Seitdem lagen die Blister mit den tiefgrünen Dingern, die den Namen Non-Ovlon trugen, neben dem Zahnputzbecher.
Ich war damals zehn Jahre alt, und ich erinnere mich, dass sowohl meine Mutter als auch deren Mutter nur Gutes darüber zu sagen wussten, dass es Frauen von nun an möglich war, über die Anzahl der Kinder, die sie bekommen, und über den Zeitpunkt, wann sie Kinder bekommen, selbst zu bestimmen. „Wenn wir gleichberechtigt sind, dann gehört das dazu“, befand meine Großmutter, „das gehört sich so im Sozialismus.“ Vielleicht hat sie mit ihren vehementen Reden für das Abtreibungsrecht auch heimlich Abbitte geleistet dafür, dass sie sich auf die „Heißer-Rotwein-und-heißes-Badewasser-Scheiße“ eingelassen und damit fast der Möglichkeit beraubt hatte, mir solch kämpferische Vorträge zu halten.
Als großartigen Nebeneffekt empfand die Frau, die ihr ganzes Arbeitsleben und noch ein bisschen mehr dem Aufbau des Sozialismus gewidmet hat, die Tatsache, dass wir mit dem Gesetz dem Kapitalismus ein Schnippchen geschlagen hatten. Die DDR war das erste Land, das den Frauen ein solch weitreichendes Recht in Bezug auf Körper und Lebensplanung einräumte. Meine Großmutter pflegte zu solchen Siegen zu sagen: „Das ist mir ein innerer Parteitag.“
Wie es für die DDR typisch war, die mehr als nur an mangelndem Anschein innerstaatlicher Demokratie litt, war der Verabschiedung des Gesetzes keine gesellschaftliche Diskussion vorausgegangen, und weder die Kliniken noch die Ärztinnen und Ärzte waren ausreichend auf das vorbereitet, was dann geschah. 1972 stieg die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche auf 119.000, um sich dann bis 1976 bei rund 83.000 derartigen Eingriffen jährlich einzupegeln. Angesichts der Tatsache, dass es die Pille kostenlos gab und das Land bevölkerungsklein war, ist das nicht wenig. Bis zum Ende der DDR wurde jede dritte Schwangerschaft abgebrochen, was wohl auch damit zu tun hatte, dass die im Gesetz zwar verlangte, in der Praxis aber kaum realisierbare ärztliche Beratung eher unzureichend stattfand.
Seltsamerweise – oder auch nicht, denn es gab auch viel Prüderie – machte sich die Selbstverständlichkeit, mit der in der DDR die Frauen ihr Recht auf Selbstbestimmung in Anspruch nahmen, nicht im alltäglichen Sprachgebrauch fest. Da ging die Mama wegen einer Frauensache mal für drei Tage ins Krankenhaus. Und gerade ob der kostenfreien Möglichkeit, sich mithilfe der Pille ungewollte Schwangerschaften aus dem Leib halten zu können, gab es auch viel Kopfschütteln über jene, denen es trotzdem „passierte“.
Familienplanung schien plötzlich genauso einfach zu sein wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (was ja beides nicht stimmte). Wer das als Frau nicht auf die Reihe kriegte – zumindest das mit der Familienplanung –, konnte in den Verdacht geraten, allzu leichtfertig, wenn nicht sogar eine „Schlampe“ zu sein. Auch in der DDR wurde der Begriff „Schlampe“ für Frauen benutzt, die taten, worauf sie Lust hatten. Meine Großmutter hatte nicht viel übrig für derartige Frauenzimmer.
Aber egal wie und warum: Das „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“ war ein Befreiungsschlag. Für Frauen. Die Entscheidungsmacht über Mutterschaft, gekoppelt mit der Möglichkeit, sich von einem Mann zu trennen, wenn es einfach nicht mehr passte, und in Kombination mit der Tatsache, ökonomisch auf eigenen Füßen stehen zu können, das war eine für Frauen sehr belebende Mischung.
Obwohl von dem Zeitpunkt, da den Frauen in der DDR dieses Selbstbestimmungsrecht gegeben und für sie zur Selbstverständlichkeit wurde, bis zu jenem Moment, da ihnen der Paragraf-218-Müll wieder übergeworfen werden konnte, nur 18 Jahre vergingen, fand ein Bewusstseinswandel statt. Die Tatsache, dass Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen allein in der Entscheidungsbefugnis der Frau lag, hat mehr als eine Frauengeneration beeinflusst. Selbst heute, nach so vielen Jahren, ist das noch spürbar. Meine Mutter empfindet den mit der Wiedereinführung des Paragrafen 218 verbundenen Rückschritt als Affront und Beleidigung. Und auch wenn sich ihr Blick auf die DDR und das, was sie wirklich war, sehr gewandelt hat: In dieser Frage verliert sie kein schlechtes Wort über das untergegangene Land.
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