Bereits im Vorfeld des 26. September 2021 (Bundestagswahl, Landtagswahlen in Berlin) hatte die SPD der beiden Parteichefs Franziska Giffey und Raed Saleh den Beweis angetreten, dass sie bereit ist, sich um jeden Preis zu häuten. Die nächste Haut würde Rot nur noch als Farbtupferl an der einen und anderen Stelle aufweisen. Die durchgestochenen Begründungspapiere dazu, warum die SPD nun ohne Not und gegen Wähler*innenvotum die rot-grün-rote Regierung zugunsten eines Bündnisses mit der CDU beendet, lesen sich, als beginge die Berliner Sozialdemokratie Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Das wird zwar wahrscheinlich faktisch stimmen, greift jedoch zu kurz, was die Folgenabschätzung anbelangt.
Die eine – und sehr unmittelbare – Folge ist eine Ver
t eine Verrohung der politischen Sitten, wie sie nun möglicherweise erst mal zur Norm erklärt wird. Giffey ist es tatsächlich gelungen, ihre Entscheidung für eine Große Koalition mit einer Schmutzwäschekampagne zu orchestrieren, die atemlos macht. So ungetrübt von Selbsterkenntnis und -kritik – das wird hoffentlich Eingang in Lehrveranstaltungen der Politikwissenschaft finden. Die beiden ehemaligen Koalitionspartnerinnen können ob eines solchen Mangels an politischem Anstand zu Recht erbost sein. Nützt aber nichts.Und sie müssen sich in Vorbereitung auf 2026 und die nächsten Wahlen schon der Frage stellen, warum ihnen kein größeres Vertrauen seitens der Wähler*innen entgegengebracht wurde und somit kein besseres Ergebnis möglich war. Viel zu wenig von dem, was im rot-grün-roten Koalitionsvertrag so schön stand, wurde sichtbar angepackt. Spürbare Verbesserungen im anstrengenden Alltag können kaum benannt werden. Eine in weiten Teilen dysfunktionale Verwaltung überformt noch jede Bemühung, den Menschen in den Außenbezirken und in der Innenstadt gleichermaßen zu Diensten zu sein, damit sie ein paar Sorgen weniger haben. Mit den daraus entstehenden Frustrationen und Ängsten Schindluder zu treiben, ist der CDU und der Berliner SPD ziemlich gut gelungen. „Sicherheit und Sauberkeit“ sollen es nun bringen. Fehlt nur noch „satt“. Aber so weit wollten die wenig sozialdemokratischen Sozialdemokraten mit ihren Versprechen nicht gehen.Die Chance auf progressive Mehrheiten im Parlament schwindetViel einschneidender und deprimierender sind jedoch die Folgen der „Berliner Verhältnisse“, wie sie Giffey und Saleh geschaffen haben, für die Frage, ob in absehbarer Zeit oder zumindest mittelfristig eine Chance für progressive Mehrheiten gegeben ist. Seit Ende der 1990er Jahre gibt es die Idee eines großen gesellschaftlichen Projekts, die mit dem Kürzel R2G umschrieben war. Dieses Projekt sollte mehr sein als die Summe seiner Teile. Es sollte eine Mosaiklinke (nicht alle mögen den Begriff, aber er ist nicht schlecht) beschreiben, die für eine radikaldemokratische und sozialökologische Transformation steht und dieses Vorhaben auch parlamentarisch abbildet. Ein politischer Gegenentwurf, der den Beweis anzutreten hätte, dass auf allen Ebenen – kommunal, regional, bundesweit – progressive Politik unter Einbeziehung größtmöglicher Teile der Zivilgesellschaft machbar ist.Diese Idee ist nicht vom Tisch, aber die gegenwärtigen Bedingungen und Politiken lassen sie wie eine Orchidee erscheinen. Dass dem so ist, daran haben alle drei adressierten Parteien ihren Anteil erwirtschaftet. Die Linke verschwindet möglicherweise ganz, wenn sie feststellen muss, dass Sahra Wagenknecht nicht an allem Schuld trägt und kein Problem gelöst ist, wenn sie endlich woanders ihr Unwesen treibt. Die Grünen werden irgendwann vor der Aufgabe stehen, die Reste einer einst radikal ökologischen und Friedenspartei zusammenzukratzen, um zu schauen, ob sich daraus noch eine wirklich taugliche Politik gegen die physisch existenzielle Klimakrise entwickeln lässt. Die Sozialdemokraten bräuchten einen harten Entzug, um jenseits Großer Koalitionen noch eine Vorstellungskraft für wirklich sozialökologische Politik entwickeln zu können.Die Folgen reichen über Berlin hinausKonkret verschiebt eine Große Koalition in Berlin die Machtverhältnisse im Bundesrat, verkleinert also einmal mehr den Möglichkeitsraum für zumindest in Teilen soziale und ökologische Politik. Man mag nicht darüber nachdenken, ob auch das im Kalkül von Giffey und Saleh eine Rolle spielt. An entsprechender Hybris mangelt es ihnen nicht. Der tote Entertainer Harald Juhnke umschrieb so eine Selbstüberschätzung mit dem Satz: „In Berlin bin ich weltberühmt.“Von drei Bundesländern, in denen R2G doch zumindest in regionalem Maßstab praktische Nachweise führen kann, bleiben zwei: Bremen und Thüringen. Ob das nach den anstehenden Landtagswahlen noch so sein wird, ist offen. Vor allem da Thüringen vormacht, wie unter den allerhöchstschwierigen Bedingungen eine R2G-Minderheitenregierung als eine Brandmauer gegen rechts funktionieren kann.Der Schaden, den die Berliner SPD-Führung mit der zurechtgebogenen und erlogenen Behauptung anrichtet, die rot-grün-roten Schnittmengen genügten nicht für eine Regierungsverantwortung, reicht also leider über die Stadtgrenze Berlins und die noch ausstehenden knapp zweieinhalb Jahre bis zur nächsten Wahl hinaus. Für Franziska G. kann die Unschuldsvermutung nicht gelten.