Häme gegenüber Berlin ist dumm und gefährlich

Coronakrise Markus Söder und Philipp Amthor zeigen gern mit dem Finger auf andere. Innerdeutsch ist sich jeder am liebsten selbst der Nächste
Ausgabe 42/2020
Wir haben erlebt, wie mit dem Finger auf andere Länder gezeigt wurde, weil sie unter der Pandemie zusammenzubrechen drohten. Jetzt hämt es aus Bayern und anderswoher nach Berlin
Wir haben erlebt, wie mit dem Finger auf andere Länder gezeigt wurde, weil sie unter der Pandemie zusammenzubrechen drohten. Jetzt hämt es aus Bayern und anderswoher nach Berlin

Foto: Philipp Guelland - Pool/Getty Images

Der spanische Soziologe César Rendueles beklagte einst die „natürliche Tendenz der Menschen, ihre Interaktion auf nicht kompetente Weise zu koordinieren“. Klingt anwendbar auf die gegenwärtige Debatte über sinnvolle oder -freie Beherbergungsverbote und andere Versuche, angesichts einer pandemisch sich ausbreitenden Kleinstaaterei zumindest den Eindruck von Stringenz zu erwecken. Bella Figura sieht anders aus. Es wäre zu ertragen, wenn sich Rat- und Kopflosigkeit nicht noch mit schlecht vorgetragener Häme und einer geradezu retardierten Form von Auseinandersetzung mischte. Wobei eins zu sagen ist: Schlimmer als unqualifizierte Schelte wäre, aus Bayern tönte es wohlwollend Richtung Berlin. Ein Lob Markus Söders (CSU) oder Philipp Amthors (CDU) für die Sünden-Metropole könnte Grund sein, wegzuziehen.

Ganz transparent sei nur die Leere, schrieb der Philosoph Byung-Chul Han, und so betrachtet, lassen Söder und Amthor, der in Berlin „Kontrollverlust“ erlebt haben will, nichts zu wünschen übrig. An Transparenz fehlt es ihnen in diesem Zusammenhang keineswegs. Sie mögen Berlin nicht. Punkt. Nun, ehrlich: Bayern steht jetzt auch nicht ganz oben auf Berlins Beliebtheitsskala. Amthor ebenfalls nicht. An dieser Stelle ließe sich ein Schlussstrich ziehen. Dass Berlin des besonderen Hangs zu Sodom und Gomorrha bezichtigt wird, einer die Gefahr verkennenden, ununterbrochenen Feierlaune auf Kosten der anderen, ist das Papier nicht unbedingt wert, auf dem es ins Protokoll geschrieben wird. Vielleicht ist sogar ein gewisses Mitgefühl mit Söder angebracht, der aus dem einen Hotspot in den anderen Hotspot ruft: Du befindest dich gerade „am Rande der Nicht-mehr-Kontrollierbarkeit“! Das nennt man nicht Flucht nach vorn, das ist schlicht und ergreifend dumm angesichts einer sich stetig verändernden Situation. Hotspot kann gerade ganz schnell jeder werden. Warum darüber trotzdem einen Kommentar schreiben?

Bei Philipp Amthor ist es einfach: Wenn wir nicht aufpassen, ist der unsere Zukunft. Jener Typus Politiker, der auf eine geradezu unverhohlene Art und Weise in der Lage ist, immer „Haltet den Dieb!“ zu rufen, wenn er die Hand im Mustopf hat. Was die Söders anbelangt, so bringen sie etwas auf den Punkt, was uns jenseits der Pandemie besorgen sollte: eine sich ausweitende Suche nach Sündenböcken, wie sie einem gerade in den Kram und ins politische Konzept passen, gepaart mit Verachtung.

Wir haben erlebt, wie mit dem Finger auf andere Länder gezeigt wurde, weil sie unter der Pandemie zusammenzubrechen drohten. Weil ihnen die deutsche Ordnung fehlte. Wir haben zuhören müssen, wie uns erklärt wurde, dass die Infizierten in den Schlachthöfen dieses so effizienten, hoch entwickelten Landes zum Glück nicht zur einheimischen Bevölkerung gehören, stattdessen Fremde seien, die hierzulande das Virus verbreiten und unsere Erfolge kaputtmachen. Wir haben zusehen müssen und zugesehen, wie die vorher schon dichten Grenzen noch dichter gemacht wurden, vor allem für jene, die auf griechischen Inseln und unseretwegen unter schlimmsten Bedingungen in Lagern hausten. Und wir haben nicht ausreichend protestiert, als sich Deutschland mit einer jämmerlichen Zahl aufzunehmender Geflüchteter in die Brust warf, als sei dies tatsächlich ein Akt der Humanität.

Jetzt hämt es aus Bayern und anderswoher nach Berlin. Nun ist sich innerdeutsch jeder am liebsten selbst der Nächste. Zurückzuhämen ist die falsche Antwort. Man muss sich mit den Söders nicht gemeinmachen.

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