Karla sagt zu keinem Nein. Beugt sich einer zu ihr hinab und murmelt ihr einen Wunsch ins Ohr, steht sie auf, um mit ihm zu gehen. Nach so vielen Jahren Abwesenheit ist es das Mindeste, was sie tun kann. Für all die Männer hier im Saal.
37 Jahre, denkt Karla hin und wieder, wenn sie zu Heimatklängen auf der Tanzfläche hin und hergeschoben wird. Den Dritten fragt sie, ob man sich trennen könne. Beim Tanzen. Sie erinnert diesen Mann als kleinen blonden, etwas rundlichen Jungen, eine lustige Grinsebacke in gestrickten Pullovern. In der Klasse saß er drei Bankreihen vor ihr. „Mir danzen hier lieber zusammen“, sagt er. Also bleibt sie seine Tanzbraut für zwei Lieder, setzt die Füße einszweitipp und wundert sich, dass es noch so funktioniert. Lässt sich schwenken und drehen, fortschieben und ranziehen und redet dabei kaum ein Wort. Aus dem kleinen, blonden Strickpulloverjungen ist ein großer breitschultriger Mann geworden, mit einer Vorliebe für karierte Hemden und einer kleinen Lust auf Einszweitippnähe. Er fragt, ob Karla sich erinnere, an all die Menschen hier im Saal, und sie sagt nein, an wenige nur. Man sei ja auch noch recht klein gewesen damals, sagt sie. Acht, neun und zehn Jahre. Im elften war sie schon verschwunden. Weggegangen aus der kleinen Kleinstadt in eine vierzig Kilometer entfernte Chemie-Metropole mit Straßenbahnen und höheren Schulen. Dort sprachen die Leute genauso wie in der kleinen Kleinstadt. Verwechselten manchmal mir und mich, bauten Sätze, die mit „ich jeh bei meine Oma“ endeten, und hängten an manche Geschichte ein „kannste dich das vorstellen?“ Final geäußerte Verwunderung über die Angelegenheiten des Lebens und den Gang der Dinge.
Aber anders waren sie trotzdem in der Chemie-Metropole. Arbeiteten bei Leuna und Buna, wussten, dass man Dederon nicht trägt, wenn der Wind falsch steht und saurer Regen fällt, fuhren am Wochenende mit der Straßenbahn raus aus der Stadt in einen Kurort für Lungenkranke, der sich Bad Dürrenberg nannte. Die Lungenkranken kamen nicht aus Leuna, sondern anderswoher. Wo es noch schlimmer sei, sagten die Leute, als in Leuna, Buna oder Bitterfeld. Wo man untertage schufte und der Russe die Hand auf alles lege, was man da in den Stollen finde. Bomben ließen sich damit bauen. Und die Lungen litten darunter. Karla kann sich noch erinnern an solche Gespräche. An einen Onkel, der in der Wismut unter der Erde gearbeitet hatte, um Uranerz zutage zu fördern, das dem Russen gehören sollte. Für die Schufterei in den engen Schächten wurde der Onkel bevorzugt, wenn es um den Kauf von Kühltruhen und den Erwerb von Schnaps ging, der Kumpeltod genannt wurde. Später trank sie das Zeug selber, verdünnt mit Obstsaft oder Cola. Der Onkel brachte sein Leben in Gefahr und sie vertrank in Leipzig an langen Abenden seine Belohnung dafür. Entgegen aller Unkereien und Orakel ist der Onkel nie krank geworden, nicht an der Lunge und nicht an der Haut. Nur Kinder hat er keine gezeugt. Aber vielleicht war ihm nicht danach.
Nach dem Strickpulloverjungen, aus dem ein Hemdenträger geworden ist, tanzt Karla mit einem, der war erst spät in die Kleinstadtklasse gekommen, der sie auch einmal angehört hatte. „Aber meine Frau“, sagt er beim Einszweitipp und zieht Karla ganz dicht an seine Brust, „die musste noch kennen. Die jing in die B. So ne Dunkelhaarije, mit Zöppen.“ Karla erinnert sich nicht an die Dunkelhaarige. Aber an die Sonntage in dieser kleinen Stadt erinnert sie sich gut. Und an die Sprache, die ihr jetzt wieder um die Ohren fliegt und seltsam anrührend klingt. Karla fühlt sich, als sei es doch nicht gelungen, hier wegzukommen und sich ein anderes Leben zu bauen, an einem anderen Ort. Ihr ist ein wenig zum Heulen. Alle Sonntage der Welt bauen einen Kokon aus Traurigkeit um sie, während sie tanzt und tanzt, einszweitipp und immer im Kreis. Die regnerischen, an denen man zu Hause bleiben musste wie die sonnigen, an denen man zum Fluss laufen und sehen konnte, wie der Industrieschmutz schaumige Türme baute, die sich träge bewegten, aber doch wenigstens ein Ziel zu haben schienen.
„Meine Frau“, sagt der Mann, mit dem Karla nie eine Schulbank gedrückt hatte, „is heute nich hier. Die hat sich ja mit meinem Jewehr erschossen.“ Karla vertippt sich beim Tanzen und fragt, ob das an einem Sonntag passiert sei.
Ein Freitag wars. Ein Freitagabend, nicht anders als viele andere Abende. Der Mann an einem Ort, wo Träume wahr werden, um Gewichte zu stemmen und sich die Angst vor dem Alter aus dem Leib zu jagen. Die Frau zu Hause vor dem Fernseher. „Janz normaler Abend, Karla, da kommste nich drauf, dass was Schlimmes passiert.“ Und doch habe die Frau das Jagdgewehr aus dem Schrank genommen und sich in die Brust geschossen. „Übberläbt“, sagt der Mann und dreht Karla einmal um ihre eigene Achse.
Jetzt muss sie doch den Wiebitteblick aufsetzen.
„Lag im Koma und is dann widder jeworn.“
Karla geht zum Tisch zurück, wo die Mädchen, die nun alle Frauen sind, mit großen oder kleinen Brüsten, breiten Hüften oder
schmalen Gesichtern, auf sie warten, um Geschichten zu erzählen. „Dass wir dich gefunden haben“, sagen sie, „nach so vielen Jahren. Wo haste denn alles jesteckt“, fragen sie und wollen Bilder sehen aus Karlas Leben. Zeigen, als Karla verneint, sich und ihre Familien, matt oder hochglanz, in Alben gepackt und mit Jahreszahlen versehen. Präsentieren Schwiegertöchter und Enkelkinder, Wohnzimmer, die aussehen wie für die Werbung gemacht, Gärten, in denen die Hollywoodschaukel neben dem Kugelgrill steht und die Terrasse so groß ist wie ein Tanzboden. Sie holen Klassenfotos aus den Handtaschen. Gleichen ab, was aus ihnen werden sollte und geworden ist.
„Warum seid ihr hiergeblieben“, will Karla wissen. „Warum soll man fortgehen“, fragen sie zurück. Ist die Welt nicht überall gleich komisch und langweilig? Und sind sie hier nicht geschützter als anderswo? Sie alle zusammen, in dieser Kleinstadt, die nicht viel schöner geworden ist in all den Jahren, aber vielleicht gerade deshalb eine Trutzburg bleiben konnte. Eine Burg mit leeren, alten Häusern und pastellfarbenen, neuen Eigenheimträumen. „Sogar Frank is hierjeblieben“, sagen die Frauen, die mal Mädchen waren, und alle in eine Klasse gingen. „Baut Tunnel in Österreich und kommt nach Hause, so oft er kann. Is doch jut, wenn nich alle jehn.“
Karla dreht mit Frank ein paar Runden auf der Tanzfläche. „Einszweitipp“, lächelt sie und Frank lächelt zurück. „Österreich“, sagt er, „ist das schönste Land überhaupt. Sissi, kennste die? Ich bin ein janz großer Sissifan.“
Karla nickt und vertippt sich. Sissi hier in der Kleinstadt. Im Herzen von Frank, der in der Schule seine Mühen hatte, und nun Tunnel baut für Österreich. Mit dem sie jetzt über die Kaiserin redet und über einen Kärntner Hauptmann, der die großen Autos liebte und die großen Parolen und sich dann totgefahren hat. „Jut für Österreich“, sagt Frank. „Der Hauptmann und Sissi, das jeht nich zusammen.“
Die Mädchen, aus denen Frauen geworden sind, sitzen am Tisch und reden über Arbeit. Wie die quält, wenn man sie hat. Und wie schrecklich es ohne sie ist. Karla erinnert sich, dass man Arbeit hier in diesem Landstrich oft „Kläje“ nennt. Als käme das Tun vom Klagen. Aber niemand sagt es heute so. Sie sagen „Arbeet“ oder „Plackerei“.
Eine, mit der Karla in Schulzeiten gemeinsam gelernt hatte, wie man ein Dreieck spiegelt oder einfach nur von A nach B verschiebt, läuft nun Streife. Für Privat, wie sie sagt, damit es ordentlich bleibt und die Leute nicht so viel kaputt machen. „Du“, sagen die anderen zu ihr. „Du hast doch studiert, was machstn da auf der Straße?“ Darüber streitet man dann eine Weile. Ob das Studieren eine nicht zwinge, ein ganzes Leben lang studierte Arbeit zu machen. Und ob die Straße gut oder schlecht ist als Arbeitsort.
„An der Kasse isses härter“, sagt eine und macht eine Männergeste mit der rechten Hand. „Da haste abends zu nüscht mehr Lust.“ Die Frauen nicken und sehen ein bisschen müde aus. Gekocht und gewaschen werden muss ja doch am Abend. Und der Garten pflegt sich nicht von alleine.
Am Nachbartisch wird schon gesungen. Die Männer lachen laut und lang über Dinge, von denen Karla nichts weiß.
„Bauingenieur“, sagt die Streifegängerin, „da nimmt mich doch keiner. Was denkt ihr, wie das läuft? Ich bin jerne an der frischen Luft.“ Nur das letzte Argument zählt. Anstrengend ist hier noch jede Arbeit. Die an der Kasse bei Aldi und die Plackerei für den kleinen Betrieb, den man sich aufgebaut hat, genauso. „Gas, Wasser, Scheiße“, sagt eine und lacht. „In der DDR haste jut verdient. Und nu?
Karla lacht mit. Handwerk hat keine goldenen Hände mehr. nun kriegt die ehefrau gerade mal vierhundert im Monat und der Sohn will den Laden nicht erben. Gaswasserscheiße, genauso klingt dann das Leben, Läben, wie sie hier sagen.
Dann kommt wieder einer und bittet Karla zum Einszweitipp auf die Tanzfläche. Der redet davon wie es ist, wenn man mit allem in Vorkasse gehen muss. Und wenn die Burschen dann nicht zahlen. „Da stehste immer kurz vor der Insolvenz“, sagt er und drückt Karla eine Visitenkarte in die Hand. „Rufste mich mal an? Ich bin ja öfters in Berlin.“ Was soll sie sagen, sie hat drei Jahre mit diesem Mann, der mal ein kleiner Junge war, mit Flausen im Kopf und schmutzigen Fingernägeln, die Schulbank gedrückt. Sie steckt die Visitenkarte in ihre Hosentasche und lässt sich über die Tanzfläche schwenken.
Der DJ ist weit über 70 und scheut sich vor nichts. Nun greift er doch zu den harten Sachen und Karla löst sich aus den Armen ihres Tänzers. „Ein bisschen rumhopsen“, sagt sie und schwenkt den Hintern. Die Frauen am Tisch juchzen, stehen auf und fangen an, sich zur Musik zu bewegen. Sie kreisen mit den Hüften, schlenkern mit den Armen, drehen die Köpfe im Kreis. Sie tun das so lange, bis sie wieder Mädchen geworden sind. Scheißdrauf, denkt Karla, und juchzt und schlenkert mit. Danach ist die Welt für einen kurzen Moment im Lot. Karla trinkt ein Bier und dann einen Sekt und hört den Frauen zu, wie sie übers Leben reden. „Beim nächsten Mal“, sagt sie, „bringe ich Fotos mit.“
Endlich kommt der Fotograf, auf den alle gewartet haben. Am Nachmittag hatten sich die Klassen draußen vor dem Panorama der großen Saalebrücke aufgestellt. Die malte ein Halbrund über die Köpfe all derer, die in der letzten Reihe standen. Wie gerahmt sehen sie nun aus auf den Bildern. Nur Frank, der Tunnelbauer, ragt über das Brückenhalbrund hinaus, als sei es ihm nicht so wichtig, dazuzugehören.
Drei Klassen, drei Klassenfotos. Karla sitzt vorn auf der Bank, zwischen all den Mädchen, aus denen Frauen geworden sind, und vor all den Männern, mit denen sie heute getanzt hat. „Wie du aussiehst“, sagt eine und kichert. „Wie ne Fremde.“
Kathrin Gerlof ist freie Journalistin, Autorin und Filmemacherin. Im September 2009 erscheint von ihr
Alle Zeit im Aufbauverlag
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