„You’ll never walk alone“ – vor allem nicht auf der Bundespressekonferenz
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Der Sozialstaat habe aus unserer Welt immerhin so etwas wie „eine bewohnbare Ersatzheimat“ gemacht, konstatierte der Soziologe Götz Eisenberg beim Nachdenken über die Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) formuliert es schlichter: „You’ll never walk alone.“ Wo immer man Reichtum ansetzen mag, ist das jedoch für wahlweise ein bis zehn Prozent der Bevölkerung nicht existenziell wichtig. Die schaffen es allein ganz gut, denn deren Heraus- oder gar Abgehobensein ist beste Voraussetzung dafür, in Krisen nicht allzu ängstlich sein zu müssen. Auch dann nicht, gefiele es ihnen, keiner allzu großen Gruppe anzugehören.
Die verbleibenden 90 bis 99 Prozent befinden sich, abgestuft bis g
tuft bis ganz weit ins Prekäre, in großer Gesellschaft, sind also definitiv nicht allein. Das meint Scholz allerdings nicht. Er will sagen, dass jene Bevölkerungsschichten, die noch von jeder Krise existenziell betroffen sind, nicht alleingelassen werden. Was angesichts der Tatsache, dass sie ja nur deshalb existenziell dermaßen fragil und verletzlich sind, weil sie in der Vergangenheit alleingelassen wurden, seltsam wirkt. Wieso, fragt sich manche und mancher sicher, sollte das ausgerechnet jetzt anders werden? 2021, noch bevor die Preise für Energie und Lebensmittel explodierten, galten 16,6 Prozent der Bevölkerung als arm. Das waren 300.000 mehr als ein Jahr zuvor. Da hatten wir ja auch noch eine andere Regierung, ließe sich sagen. Zwar mit der SPD, aber eben trotzdem anders. Das stimmt, beantwortet aber im Umkehrschluss nicht die Frage, warum jetzt eine Regierung, an der eine Partei beteiligt ist, deren heutiger Finanzminister noch kurz vor der Wahl erklärte, in Deutschland gebe es bereits Umverteilung „at its best“, in der Krise die Gerechtigkeitslücken der Vergangenheit verkleinern oder gar schließen sollte. Oder anders gefragt: Was beschriebe diese Regierung überhaupt als Gerechtigkeit?Legen wir mal die aberwitzige Annahme zugrunde, sie würde ernsthaft darüber debattieren und feststellen, dass es ob der sich in die Gegenwart verlängernden Vergangenheit ganz schön ungerecht zugeht. Wenn einer wie Christian Lindner postuliert, in Notzeiten könne ein Staat nicht den Wohlstand des ganzen Landes erhalten, dann heißt das: Der Mann glaubt wirklich, hierzulande leben alle im Wohlstand.Es könnte ein interessantes Gedankenspiel sein, sich zu fragen, was SPD und Grüne heute formulierten und forderten, wären sie Opposition zu einer – sagen wir – schwarz-gelben Regierung. Wahrscheinlich würden sie einem heißen Herbst das Wort reden. Und nähmen das Wort Gerechtigkeit oft in den Mund. Nun aber regieren sie gemeinsam mit einer Partei, die dem Staat grundsätzlich Frugalität vorschreibt. Schlank, möglichst wenig verschuldet, zurückhaltend in Steuerdingen soll er sein. Will man unter diesem Diktum, das aufzugeben die Koalition obsolet machte, in irgendeiner Form Gerechtigkeit herstellen, wird sich das nur schwer über das Niveau von Essensgutscheinen (die hier pars pro toto stehen sollen) hinausbegeben können. Was nicht sagen soll, dass es unmöglich ist.Es gab einmal eine SUV-Werbung, die ging so: „Man kann seine Natur ignorieren oder sie einfach ausleben.“ Die FDP wird ihre Natur auch in diesen Krisenzeiten nicht ignorieren. Können.Es ließe sich versuchen, sie ein wenig daran zu hindern, ihre Natur vollends auszuleben. Ob das gelingt, hängt unter anderem davon ab, was aus diesem bislang recht ominösen heißen Herbst wird. Und ob Grüne und Sozialdemokraten zu etwas bereit wären, was der Soziologe Paul Watzlawik „paradoxe Intervention“ genannt hat: Mögliche Proteste gegen die eigene Regierungsarbeit zu bestärken, um ein Fundament für die Kämpfe innerhalb der Koalition zu haben. Anstatt zu versuchen, Protesten mit verschiedenen Varianten von Einmalzahlungen und Rabattmarken den Wind aus den Segeln zu nehmen. Im Moment sieht vieles nach Essensgutscheinen aus.An der Mehrwertsteuer zu schrauben ist weitaus mehr FDP-konform als zum Beispiel ein soziales und ökologisches Grundkontingent für jene, die aufgrund ihrer prekären Lage den kleinsten ökologischen Fußabdruck haben, jedoch die größte Last schultern müssen. Einmalzahlungen haben eine Chance auf koalitionären Konsens, eine einmalige Gewinnabgabe oder gar Übergewinnsteuer wohl nicht. Das Herumbasteln an der sogenannten „kalten Progression“, wie es dem Finanzminister gerade vorschwebt, wird jenen am stärksten zugutekommen, die nicht in Not sind. Das hat mit Gerechtigkeit rein gar nichts zu tun. Und ebenso wenig eine wie auch immer geartete Einmalzahlung, deren naheliegendstes Synonym „Almosen“ ist.Sollten Grüne und Sozialdemokraten wirklich glauben, mit solchen Abfederungen – was sie unbenommen sind – eine Friedenspflicht, ein Stillhalteabkommen ausrufen zu können, verzichten sie auf die Möglichkeit, sich unterstützt, gestärkt und beraten durch Proteste für mehr Gerechtigkeit in ganz sicher nicht einfache Auseinandersetzungen mit ihrem liberalen Koalitionspartner zu begeben. Denn für die Gegenwart gilt, dass die beiden zwar keine Idee von einer wirklich gerechten, aber immerhin eine von einer etwas gerechteren Gesellschaft haben.