Die Ränge, von denen aus sich das Volk, anschauen könnte, wie es regiert wird, bleiben in der Regel leer. Eine Bezirksverordneten-versammlung in Berlin findet gemeinhin mitten in der Woche und abends statt. Zudem dauert sie Stunden und ist über weite Strecken in etwa so aufregend wie eine Direktübertragung vom Springreiten. Das trifft auch auf fast alle Bundestagsdebatten zu, aber die Tatsache, dass die Leute im Bundestag für eine ganze Menge Geld arbeiten und einen eigenen Fahrdienst haben, erhöht das allgemeine Publikumsinteresse.
Eine Bezirksverordnete wird niemals kostenlos mit der Bundesbahn fahren können und nur in Ausnahmefällen zum Erntedankfest in die Hessische Landesvertretung eingeladen. Das Volk ahnt diese unspektakuläre Daseinsweise und bleibt den Rängen fern.
Im Kreuzberger Rathaus hat die Abwesenheit des Volkes allerdings auch Vorteile - sie verhindert eine Eskalation im Sanitärbereich des Hauses. Mehr als 20 Zuhörerinnen und Zuhörer, die ob der aufregenden Debatten der Bezirksverordneten hin und wieder pinkeln gehen müssten, brächten das Gleichgewicht des Schreckens sicher ins Schwanken. Seit Monaten werden die bedürftigen Gastfrauen darauf aufmerksam gemacht, dass sie, noch bevor sie die Hosen runterlassen, die Wände der Kabine nach Löchern absuchen sollten, da sich ein Voyeur herumtreibe, dem es immer wieder gelinge, die dünnen Bretterwände erneut anzubohren. Also guckt Frau brav und kritisch, ob irgendwo ein Lichtstrahl aus der Nachbarkabine dringt, und verpasst derweil mindestens zwei Tagesordnungspunkte im Ratssaal. Über die Situation bei den Männern lässt sich an dieser Stelle schwer etwas berichten, vom Hörensagen ist bekannt, dass auch hier Grenzwerte überschritten werden. Irgendwann befassten sich die Bezirksverordneten deshalb auch an einem Mittwochabend mit der Drucksache 0675 "Es stinkt zum Himmel", in der den Damentoiletten ein Zustand der Verwahrlosung bescheinigt und ein grassierender "Toilettenvandalismus" angeprangert wurde. Die Mühlen der Demokratie mahlen allerdings langsam. Es stinkt weiterhin zum Himmel.
Trotzdem lohnt sich der Besuch einer Bezirksverordnetenversammlung allemal. Sicher ist es schwierig, den endlosen Aufzählungen von Drucksachennummern zu folgen und die teils sonderbaren Titel von Anträgen, Anfragen und Beschlussvorlagen der menschlichen Logik anzupassen: "Worin besteht die Notwendigkeit, zusätzlich zu den gesetzlichen Regelungen des Landes Berlin bezirkliche allgemein gültige Erlaubnismodalitäten für die Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen für Schankvorgärten zu erarbeiten?" Weiß der Bürger oder die Bürgerin dann, dass es hier um das letzte Bier am Abend, bei Außentemperaturen von noch 20 Grad, Innentemperaturen von 1,2 Promille und in fröhlicher Runde geht? Man kann nicht sicher sein.
Aber es gibt eben auch Sternstunden des Parlamentarismus, die sich jenseits des "Vorhabenbezogenen Bebauungsplanes 2-4 VE" und der "Zwischenberichte zur Räumlichen Entwicklungsplanung" bewegen und denen ein demokratisches Interesse, von den Rängen aus bekundet, gut täte. Es muss ja nicht gleich eine Laolawelle sein, die da Begeisterung signalisiert und es braucht auch keine "Oliver Kahn, wir halten für dich die Augen offen"-Transparente.
Vor kurzem erst gab es spätabends ein solches Sternstündchen, als man sich im Kreuzberger Rathaus über die mögliche Errichtung eines Gedenk- und Dokumentationszentrums des "Bundes der Vertriebenen" im Stadtbezirk stritt. Eine Besuchergruppe, bestehend aus Abgeordneten des Deutschen Bundestages, hätte hier einiges lernen können über Polemik jenseits eingeübter Spielchen und Lagermentalitäten. Da wurde die eigene Meinung kundgetan und nicht die einer Partei.
Vielleicht, es bedürfte noch einer verifizierenden Meinungserhebung, wünschen sich die Bezirksverordneten, die seit Jahren nichts anderes mehr tun können, als den Mangel so flächendeckend zu verteilen, dass er allen wehtut, aber keinen umbringt, vielleicht wünschen sie sich in solchen Momenten, es möge auf den Rängen zugehen wie einst in der italienischen Oper: Ganze Familien hockten da oben mit ihren Picknickkörben und bereit, zu buhen oder zu klatschen, da Capo zu fordern oder sofortige Bestrafung für eine schlechte Vorstellung. Im Foyer des Rathauses stünden dann Fernseher für alle, die gern zwischendurch den aktuellen Spielstand wüssten, auf den Besuchertoiletten imaginierten wohlriechende Seifenspender einen Hauch von Karibik, in den Pausen wären Abgeordnete im ständigen Gespräch mit ihren Wählerinnen und Wählern und die belegten Brötchen, die zum Verkauf angeboten werden, sähen unverschämt frisch aus.
Und niemand traute sich mehr, eine Große Anfrage "Überschreitungen der Ansätze im Z- und T-Teil" zu nennen.
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