Märchenhaft

Berliner Abende An heißen Sommertagen und lauen Sommerabenden macht es meiner Freundin und mir nichts aus, dem sparsamsten aller Vergnügungen zu frönen: Wir treffen ...

An heißen Sommertagen und lauen Sommerabenden macht es meiner Freundin und mir nichts aus, dem sparsamsten aller Vergnügungen zu frönen: Wir treffen uns im Park, rauchen, trinken ein mitgebrachtes Bier oder eine fertig gemixte Apfelsaftschorle und reden übers Leben. Wir ziehen die Schuhe aus, lassen die Beine baumeln, lüpfen die Shirts und Blusen, um uns gegenseitig die weißen Streifen auf gebräunter Haut zu zeigen und überlegen, ob es sich lohnt, das nächste Sonnenbad in tollwütiger Haltung zu nehmen - Körper zur Brücke gebogen, bodenverhaftet nur durch Hinterhaupt und Fersen -, um trotz aller Speckröllchen eine gleichmäßige Bauchbräune zu erlangen. Das erscheint uns an lauen Sommerabenden nicht weniger schwierig, als jeden Tag diese fürchterlichen Übungen zu absolvieren, um die Bauchdecke und selbstredend unsere Persönlichkeit zu entfalten.

Einer unserer bevorzugten Treffpunkte ist der Märchenbrunnen und das, obwohl wir hier zu jeder Tages- und Nachtzeit fehl am Platze sind. Am Abend liegt es daran, dass wir weder alt und lebensmüde genug sind, um nur noch durch das Geschrei rotznasiger kleiner Nackedeis erfreut zu werden, am Tage ist der Grund, dass wir gar nicht über rotznasige kleine Nackedeis verfügen, die im Brunnengewässer einen Höllenlärm veranstalten, Butterkekse und Zwieback in den kleinen Fäusten zermalmen, um die Reste im Gewässer zu entsorgen und hin und wieder gegen die Wasserfontänen pinkeln.

Am Abend sieht die Sache schon anders aus. Die aufgeweichten Butterkekse schwimmen friedlich an Frosch und Rotkäppchen vorbei, die Mütter sitzen biertrinkend und die Väter strickend vor den Fernsehern, die alten und etwas lebensmüden Menschen vergehen sich zu Hause an den Resten in der Eierlikörflasche.

Abends gehört der Märchenbrunnen den lieben Liebenden und den etwas älteren Männern mit Hund, von denen man nicht weiß, ob sie nicht auch auf der Suche nach dem Mann ihres Lebens sind, obwohl die Frau zu Hause nicht das Mindeste von solchen Abgründen im Herzen ihres Gatten ahnt. Oben auf der Balustrade des Märchenbrunnens, der abends ein ganz geheimnisvolles und ein wenig verruchtes Flair hat, sitzen die Schönsten der Schönen, entledigen sich ihrer Muskelshirts, krempeln die Hosenbeine hoch, lassen die Tatoos tanzen, haben wachsam alles und jeden im Blick, während sie scheinbar zwanglos miteinander plaudern. Und wenn einer kommt, der ihre Herzen höher schlagen lässt, unterbrechen sie die Plauderei, um den Fremden zu bewundern und ihm mit Blicken eine Offerte zu machen, die er eigentlich nicht ausschlagen kann, es sei denn, zu Hause wartet die Reinkarnation von Rock Hudson auf ihn.

An solchen Abenden sitzen meine Freundin und ich vollkommen unbeachtet auf einer Bank am Märchenbrunnen, nur die Aufmerksamkeit der jeweils anderen ist uns sicher. Wir könnten mit Tellern jonglieren und dabei "Time to say Good by" intonieren und hätten doch nur ein halbherziges Publikum, das im Angesicht der weißen Streifen auf unseren Bäuchen beschließt, die Frequenz der Besuche im Fitnessstudio zu erhöhen. Deshalb tun wir nichts dergleichen, sondern trinken unser Bier, murmeln hin und wieder "Was für eine Verschwendung" beim Anblick all der Adonise und Ypsilon-Bodies und konzentrieren uns auf die etwas älteren Männer mit Hund, um rauszukriegen, was deren Begehr ist: Ein zufriedener Hund oder ein Blick auf die verpassten Möglichkeiten.

Vor kurzem allerdings hat sich ein offensichtlich gerade erst zugezogener Mann mit Hund zum Märchenbrunnen verirrt. Einer der dachte, er könne da das Tier von der Leine lassen, den bereits konsumierten Alkohol ausschwitzen und den einen oder anderen Blick auf das andere Geschlecht werfen. Für diesen bemitleidenswerten Menschen waren meine Freundin und ich die einzige Offerte, was unser Selbstbewusstsein nicht hob. Es wäre auch nicht gestiegen, wenn es sich bei dem Kerl um Harrison Ford mit Hund gehandelt hätte. Im Notstand gibt es keine Auserwählten, wir aber wollten, trotz weißer Streifen auf den Bäuchen, auserwählt sein.

Der Mann schickte erst seinen Hund vor, ein großes schwarzes Tier, das unsere Beine voll sabberte und Interesse an unseren Handtaschen zeigte. Dann kam Herrchen, um uns in wahrscheinlich jahrelang erfolgreich erprobter Anbaggermanier von dem Hund zu befreien und ein Gespräch über denselben zu beginnen. Wir schickten beide in die Wüste - den Mann und das Biest. Die Schönen verfolgten derweil ihre eigenen Interessen, zu denen wir nicht gehörten.

Zum Glück hat es nicht an den weißen Streifen auf unseren Bäuchen gelegen.

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