Wir kennen sie. Das hat sie selbst gesagt. Es hat auf großen Wahlplakaten gestanden und wurde in Fernseh-Rededuellen als Einstiegsfloskel benutzt: „Sie kennen mich.“ Diejenigen, die eine gewisse Vorliebe für Slapstick haben, erinnern sich bei einem solchen Einstieg vielleicht an die erste Szene in dem Film Fluch der Karibik. Der Piratenkapitän Jack Sparrow wird mit dem Satz begrüßt: „Ihr seid ohne Zweifel der schlechteste Pirat, von dem ich je gehört habe.“ – „Aber“, antwortet der, „Sie haben von mir gehört!“
Angela Merkel hat dem inhaltsleeren Satz auf einem Wahlplakat gewiss nicht zugestimmt, weil sie ernsthaft glaubt und will, dass alle sie kennen. Es war einfach ein gutes Framing, weniger heikel jedenfalls, als sich auf Inhalte festzulegen. Wir kennen sie also. Denken wir so.
Vielleicht lässt sich damit die Überraschung erklären, mit der viele Medien (wir wissen nichts darüber, ob es den Bürgern und Bürgerinnen auch so ergangen ist) auf die Rede der Kanzlerin im Deutschen Bundestag reagierten, die sie im Rahmen der Haushaltsdebatte in der vergangenen Woche gehalten hat. Und in der sie dafür warb, schnell, möglichst schnell, das zu tun, was wahrscheinlich bereits Anfang November hätte getan und im Sommer hätte vorbereitet werden müssen. Um der Pandemie Herr und Frau zu werden, die Kurve abzuflachen, die Inzidenz in beherrschbare Bereiche zu drücken, wieder zum „normalen“ Leben zurückkehren zu können. „Wenn wir jetzt zu viele Kontakte vor Weihnachten haben und anschließend es das letzte Weihnachten mit den Großeltern war, dann werden wir etwas versäumt haben, das sollten wir nicht tun.“ Zum Framing gehört auch diese „Bummelletzter“-Rhetorik (mit dem Wort hat sie den kürzlich stattgefundenen Digital-Gipfel auf unglaublich nette Art ins Kinderzimmer geholt). Die Kanzlerin sprach im Plenum von Oma und Opa, als säße sie mit uns am Kaffeetisch, als erklärte sie Enkelkindern in einfacher Sprache, was jetzt zu tun sei. Und es war schon oft so, dass genau diese Schlichtheit auch angerührt hat – Oma und Opa, wir rücken als Familie zusammen und beratschlagen mal ein bisschen.
Wieder zu spät entschieden
„Leidenschaftlich, ungewöhnlich emotional, eindringlich, ein spürbarer Hauch von Vermächtnis, ein anderer rhetorischer Aggregatzustand“ – die teilweise fast boulevardeske Auswertung eines Appells der Kanzlerin an Vernunft war schon etwas beängstigend. Die Kanzlerin selbst nun wahrlich nicht. Es wird immer noch erwartet, dass die Physikerin zu uns spricht. Aber warum sollte sie das tun, wenn sie doch Kanzlerin ist? Und als Kanzlerin muss sie eine gewisse Klaviatur der Ansprache beherrschen, mit deren Hilfe sie angemessen auf Situationen reagieren und anstehende politische Entscheidungen einführen kann. In dem Falle der am Sonntag beschlossene harte Lockdown – längst überfällig.
War mit dem Atomausstieg auch so. 2010 hat die Bundesregierung die Laufzeiten aller 17 deutschen Atomkraftwerke verlängert und damit den Ausstieg aus dem Ausstieg beschlossen. 2011 geschah uns der Atom-GAU in Fukushima, es folgten ein Moratorium und der Ausstiegsbeschluss. So wie beim harten Lockdown, der Anfang November gut und notwendig gewesen wäre, bedurfte es erst des erfahrbaren Unglücks und hatte die vorangegangene und längst bekannte wissenschaftliche Expertise nicht ausgereicht, um zu handeln. Um aus der vorhersehbaren und angekündigten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 herauszukommen, wurde unter anderem erst ein halbherziges Risikobegrenzungsgesetz und dann 2009 eine „Umweltprämie“ beschlossen, die den Kauf von noch mehr Autos ankurbeln sollte. Zu spät gehandelt und dann auch noch mit den falschen Prioritäten. Oder eigentlich mit den richtigen, lösen wir uns mal von unseren Projektionen, was eine Kanzlerin Merkel, was die Wissenschaftlerin Merkel nach unserem Dafürhalten tun sollte. Unser Dafürhalten ignoriert in solchen Momenten gern, dass sie die Kanzlerin der marktgerechten Demokratie und nicht die des demokratiegerechten Marktes ist. Darüber hat sie uns auch nie im Unklaren gelassen. Über vieles andere schon.
Angela Merkel ist möglicherweise weitaus mehr, als es Gerhard Schröder je gewesen war und sein wollte, die Kanzlerin der Wirtschaft. Es kam gewiss nicht von ungefähr, dass sie in ihre Rede vor dem Deutschen Bundestag zum Haushalt in den etwas lauteren Einschub zur Pandemie an einer Stelle dann noch „die Wirtschaft“ reingehaspelt hat. Gleichauf sozusagen mit Oma und Opa, was kein Vorwurf sein soll, denn genau das wird ja von ihr erwartet.
Alexander Osang schrieb vor einigen Jahren in einem Spiegel-Porträt: „Angela Merkel hat die Alternativlosigkeit zu einer Regierungsform gemacht, mit der sie die Partei, den Koalitionspartner, die Konkurrenz, die Presse und das Land befriedet.“ Jetzt scheinen wir wieder alternativlos. Und halten uns ab von der Beantwortung der Frage, ob das wirklich stimmt, indem wir darüber mutmaßen, dass die Kanzlerin möglicherweise ratlos und deshalb außer sich ist. Das war sie noch nie. Ihr Nicht-Handeln entsprang immer Kalkül, das oft genug aufgegangen ist. Aber möglicherweise gerät diese Strategie angesichts einer Pandemie an ihre natürlichen Grenzen.
Der Kindergarten, den Angela Merkel mit der „Oma-Opa-Rhetorik“ adressiert, ist vielleicht weniger der der Bürgerinnen und der Bürger als vielmehr der der Länderchefs, die sich in den vergangenen Monaten unglaublich bemüht haben, die Fehlstellen eines Föderalismus bloßzulegen, der innerdeutsche Landesgrenzen als Anfang oder Ende eines Herrschaftsgebietes definiert. Als ließe sich ein Virus davon abhalten, diese Grenzen ohne Kontrolle zu überschreiten. Davor und vor dieser Kleinstaaterei Angst zu haben, ist vielleicht weitaus angemessener.
Wissenschaftlerin? Politikerin!
„Was wird man im Rückblick auf ein Jahrhundertereignis mal sagen, wenn wir nicht einmal in der Lage sind, für diese drei Tage eine Lösung zu finden?“, hat Merkel im Bundestag gefragt. Die eigentlichen Adressaten dieser Frage kamen am vergangenen Sonntag zusammen – eine widerwillige Notgemeinschaft, deren größtes handwerkliches Geschick in Flickenteppichen besteht und in Sätzen kulminiert, die nicht mit „ich“ beginnen, stattdessen aber meist mit dem Namen des Bundeslandes, das sie vertreten. Nicht alle gleichermaßen, aber auf jeden Fall jede und jeder für sich. Die Grenzen des föderalen Systems sind jetzt zwar sehr deutlich geworden, betrachtet man allerdings zum Beispiel das Elend einer zerklüfteten und in vielen Bereichen exkludierenden Bildungslandschaft, auch keine Überraschung. Guter Föderalismus müsste auf eine Form des Gemeinsinns gründen, den wir wirklich nicht vorzuweisen haben.
Verbindlichkeit entstünde nur dort, wo gemeinsam gehandelt wird, schreibt Dietmar Dath in Maschinenwinter. Diese Verbindlichkeit hat es in den vergangenen Monaten nicht gegeben, demzufolge auch kein gemeinsames Handeln. In einem System, das bei Strafe seines Untergangs bei der Hierarchisierung von Interessen nicht davon abkommen kann, die Wirtschaft aufs oberste Treppchen zu stellen, verwundert das nicht. Hin und wieder allerdings nötigt das einen vermeintlich ungeplanten, emotionalen „Ausbruch“ ab oder verlangt nach politischen Appellen, es nicht zu toll zu treiben.
Die Rede Angela Merkels im Bundestag war angemessen, denn die Dringlichkeit vernünftiger Handlungen bedarf hin und wieder auch einer rhetorischen Entsprechung, um als solche wahrgenommen zu werden. Wir könnten darüber rätseln, ob es einem exakten Plan, einer eingeübten Choreografie entsprach, was sie da vortrug, oder ob es ein eher spontaner Akt gewesen ist. Uns darüber zu echauffieren, dass die Frau, die viel länger Politikerin ist, als sie je Wissenschaftlerin war, auf der Klaviatur politischer Rhetorik zu spielen vermag, sagt mehr über uns als über Angela Merkel. Denn auch ohne ihren Appell haben wir über ausreichend Informationen verfügt, die Lage als ernst einzuschätzen und Handlungsbedarf zu konstatieren.
Was Brandt wohl getan hätte
Erstaunlich an der Rezeption der Rede ist eher, dass hier erneut so getan wird, als wünsche man sich die Wissenschaftlerin (sie soll uns beruhigen und Klarheit ausstrahlen) herbei, anstatt die Politikerin zu fordern. In gewisser Weise hat Angela Merkel in diesem Jahr, das uns nach Jahrzehnten, in denen wir es mit verschiedenen Krisen zu tun hatten, eine kollektive, gesellschaftliche Krise bescherte, diesem Wunsch entsprochen. Sie hat diese Krise nicht auch als gesellschaftliche, stattdessen ausschließlich als medizinische Krise behandelt. Ratschläge und Empfehlungen kamen von jenen, die ihr Expertenwissen in Bezug auf ein Virus, eine Pandemie und den Umgang damit einbringen konnten. Nicht von denen, die etwas dazu beizusteuern hätten, wie eine Gesellschaft verändert werden und verfasst sein müsste, die es mit solchen Herausforderungen, wie Pandemien, aufnehmen und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen will. Die sich mit Transformation, sozialer Gerechtigkeit (oder zumindest Maßnahmen sozialen Ausgleichs) auskennen, mit Legitimationskrisen und Fehlstellen demokratischer Verfahren, mit einer Ökonomie des Alltagslebens, die eine Infrastruktur in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Pflege und soziale Sicherheit vorhält, die als Fundament auch in Krisenzeiten genügt.
Verschoben, aufgehoben, nicht angefasst stattdessen all jene Fragen, die sich aus dieser Pandemie als gesellschaftliche Aufgaben ergeben. Ein Willy Brandt hätte sich möglicherweise zu den klugen Drostens noch andere Leute an den Tisch geholt. Mit denen darüber diskutiert und nachgedacht, was es bis zur nächsten Pandemie alles zu tun gibt. Was darüber hinaus getan werden sollte, man aber nur tun kann, wenn sich dafür ein gesellschaftlicher Konsens herstellen lässt und der Politik wieder Primat eingeräumt wird. Wobei das Primat der Politik wenig nützt, wenn es schlechte Politik ist.
Brandt war der Erste und der Letzte, dem so was zuzutrauen gewesen wäre. Corona auch als kollektive gesellschaftliche Krise anzunehmen und zu debattieren hätte mehr bedeutet, als sich im Sommer darüber Gedanken zu machen, wie öffentlicher Gesundheitsdienst, Schulen, Kitas, Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime, Schlachthöfe und andere Stätten prekären Arbeitens ertüchtigt werden können für die zweite Welle, der vielleicht eine dritte Welle oder ein neues Virus folgt. Auch wenn all das dazugehört. Es gar nicht zu tun, stattdessen zu warten, bis aller Sand am Boden des Glases ist, verweist auf ein großes Defizit an gestalterischem Willen. Denn nun stimmt der Hölderlin-Satz nicht mehr: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Daran ändert eine etwas emotionale Rede der Kanzlerin nichts. Noch schlimmer allerdings ist der Befund, dass gegenwärtig keine politische Kraft und auch keine politische Persönlichkeit erkennbar ist, die es besser gemacht hätte. So, wie es jetzt ausschaut, werden wir gezwungen sein, Angela Merkel zu vermissen, wenn sie 2021 geht. Kein schöner Befund.
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